Stellungnahme -

ifo Standpunkt 238: Erhöht nicht das Defizitziel der EU!

Im Februar 2020 kündigte die Europäische Kommission an, sie werde einen Plan zur Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung der Eurozone vorlegen, einschließlich der Regeln für die Staatsverschuldung. Wegen der Covid-19-Pandemie war das Projekt lange verschoben worden. Jetzt liegt es wieder auf dem Tisch, direkt neben der Forderung, den Regierungen mehr Spielraum zu geben, um beispielsweise Ausgaben für den Klimaschutz zu finanzieren. Angesichts hoher Staatsverschuldung und der steigenden Inflation sollte dieser Weg nicht eingeschlagen werden. Die Koordinierung der Fiskalpolitik sollte über Umschichtung der öffentlichen Ausgaben erfolgen. Damit lässt sich die Qualität statt der Quantität der Ausgaben erhöhen.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Alte Regeln – neue Rahmenbedingungen

Jede Reform der Fiskalregeln in der Eurozone muss berücksichtigen, dass sich die wirtschaftlichen Bedingungen in Europa in den letzten Jahren verschlechtert haben. Die Pandemie hat die Staatsverschuldung in Italien auf über 150% des BIP und in Griechenland auf 185% des BIP ansteigen lassen. Wenn man die Schulden des NextGenerationEU-Rettungsfonds der Europäischen Union einbezieht, steigt die Quote in Italien auf 155% und in Griechenland 190%.

Darüber hinaus verzögern die steigenden Energiepreise und der Krieg in der Ukraine den Aufschwung und belasten die öffentlichen Finanzen in Europa weiter. Viele Länder ergreifen politische Maßnahmen, die bedürftigen Bürgern bei der Bewältigung der steigenden Energiekosten helfen sollen, und erhöhen die Verteidigungsausgaben. Deutschland hat z.B. kürzlich entschieden, zusätzlich 100 Mrd. Euro für die Verteidigung auszugeben, vollständig durch neue Staatsschulden finanziert.

Wie tragfähig sind aktuelle Reformvorschläge?

Wie sollten vor diesem Hintergrund die Fiskalregeln in Europa reformiert werden? Die öffentliche Debatte konzentriert sich auf die Obergrenzen eines jährlichen Haushaltsdefizits von 3% des BIP und einer Staatsverschuldung von 60% des BIP. Eine populäre Idee ist es, die Grenze für die Staatsverschuldung auf 90% oder 100% des BIP anzuheben. Die Begründung lautet, dass viele Länder der Eurozone keine realistische Chance haben, ihre Verschuldung in absehbarer Zeit auf 60% des BIP zu senken.

Andere Vorschläge nehmen öffentliche Investitionen oder Ausgaben zum Klimaschutz von der Obergrenze für Haushaltsdefizite aus. Generell argumentieren Kritiker, dass die Regeln zu unflexibel seien, weil sie die Situation der einzelnen Mitgliedstaaten und den Zweck, für den Schulden verwendet werden, nicht angemessen berücksichtigen.

Diese Kritik übersieht, dass die Schuldenstands- und Haushaltsdefizitgrenzen von 60% und 3% für die Überwachung und Koordinierung der makroökonomischen Politik in der Eurozone längst nur noch symbolische Bedeutung haben. Das Herzstück der wirtschaftspolitischen Steuerung in Europa sind die Verhandlungen im Rahmen des "Europäischen Semesters". Die Mitgliedstaaten berichten regelmäßig über ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Pläne. Die Kommission spricht daraufhin länderspezifische Empfehlungen aus. 

Schwächen der aktuellen Regeln

Die derzeitigen Regeln sind zwar nicht zu starr, haben aber zwei andere Schwächen. Erstens ist der auf ihnen basierende Prozess der Haushaltsüberwachung so komplex geworden, dass die Öffentlichkeit ihn nicht mehr versteht. Folglich gibt es wenig öffentlichen Druck auf die nationalen Regierungen, die Regeln einzuhalten.

Zweitens entscheiden am Ende die nationalen Regierungen und Parlamente über Wirtschaftspolitik und Staatsverschuldung. Der jüngste Umsetzungsbericht aus dem Vorkrisenjahr 2019 zeigt, dass nur eine Minderheit der Länder der Eurozone die Empfehlungen der Kommission befolgt.

Die europäischen Regeln für die öffentliche Verschuldung mögen einige Unzulänglichkeiten aufweisen. Dennoch würde ihre völlige Abschaffung bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Regeln sind nach wie vor ein nützlicher Bezugspunkt, um nationale Politiken zu diskutieren und zu koordinieren. Sie abzuschaffen, würde die Regierungen dazu ermutigen, bei ihren Steuer- und Ausgabenentscheidungen noch weniger auf gesamteuropäische Überlegungen zur fiskalischen Nachhaltigkeit zu achten.

Drei Gründe sprechen gegen neue Schulden

Es wird für die Staaten der Eurozone nicht einfach werden, sich in den kommenden Jahren über die grundsätzliche Ausrichtung der Finanzpolitik zu einigen. Mehrere Faktoren sprechen jedoch dagegen, den Spielraum der Regierungen bei der Aufnahme von Schulden zu erweitern, um Herausforderungen wie den Klimawandel, die Digitalisierung und den Krieg in der Ukraine zu bewältigen.

Erstens zeigt die steigende Inflation, dass sich die Finanzpolitiker nicht mehr darauf verlassen können, dass Produktionskapazitäten im Überfluss vorhanden sind, um Projekte umzusetzen, die durch höhere Staatsausgaben finanziert werden, anders als noch vor einigen Jahren. Da das Angebot heute beschränkt ist, verdrängen höhere öffentliche Ausgaben private Ausgaben stärker als früher. Deshalb tragen öffentliche Investitionen weniger zum Wirtschaftswachstum bei.

Zweitens ist die Ära der lockeren Geldpolitik vorerst zu Ende. Die Inflation steigt derzeit sogar schneller als die nominalen Zinssätze. Wenn die Zentralbanken die Inflation ernsthaft bekämpfen wollen, müssen sie die Realzinsen deutlich anheben. Dies wird die Staatsverschuldung verteuern. Zudem haben die Zentralbanken weniger Möglichkeiten, hoch verschuldete Länder durch den Kauf von Staatsanleihen zu stützen, wenn sie sich auf die Bekämpfung der Inflation konzentrieren. Es wird also wieder wichtiger, die privaten Anleger davon zu überzeugen, dass die Staatsverschuldung unter Kontrolle bleiben wird.

Drittens wäre es akzeptabel, zusätzliche Schulden für die Finanzierung klimafreundlicher Investitionen aufzunehmen, wenn diese Investitionen in Zukunft zu höheren Steuereinnahmen führten. Viele solcher Projekte ersetzen jedoch lediglich vorhandenes Kapital. Das gilt für die Ausstattung öffentlicher Gebäude mit neuen Heizsystemen, die mit Strom statt mit Öl betrieben werden, genauso wie für die schrittweise Abschaffung von Autos und Lastwagen mit Verbrennungsmotoren zugunsten von Elektrofahrzeugen oder für den Ersatz von Kohlekraftwerken durch Windturbinen. Dies alles sind wichtige Ausgaben, die zur Eindämmung des Klimawandels beitragen. Da sie aber kein zusätzliches Wirtschaftswachstum und keine zusätzlichen Steuereinnahmen generieren, sollten sie nicht dauerhaft durch Schulden finanziert werden.

Neue Prioritäten setzen, auf Nachhaltigkeit der Finanzen achten

Die zentrale Aufgabe der Fiskalpolitik in der Eurozone besteht darin, die Ausgaben neu zu strukturieren. Sie sollte öffentliche Ausgaben, die zwar vielleicht nützlich, aber nicht wirklich prioritär sind, reduzieren oder zumindest einfrieren. Im Rahmen der fiskalpolitischen Koordinierung ist die Struktur und damit die Qualität der öffentlichen Finanzen bereits ein relevantes Kriterium. Es sollte künftig stärker gewichtet werden. Die anstehende Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung in der Eurozone sollte nicht darauf abzielen, die fiskalischen Regeln zu ändern, sondern die Art und Weise, in der sie gehandhabt werden.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel “Don’t Raise the Eurozone’s Public-Debt Limit“, Project Syndicate, 15. Juni 2022

ifo Standpunkt
Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2022
ifo Standpunkt Nr. 238
Das könnte Sie auch interessieren

Artikel

ifo Standpunkte