Stellungnahme -

ifo Standpunkt 255: Zur Zukunft der deutschen Schuldenbremse

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat erneut eine Debatte über die Zukunft der Schuldenbremse ausgelöst. Es mehren sich die Rufe, sie zu reformieren. Einige Kritiker wollen sie schlicht abschaffen. Andere wollen Investitionen von der Schuldenbremse ausnehmen. Was ist davon zu halten?

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Zunächst kann man fragen, warum man überhaupt eine Verschuldungsregel in der Verfassung verankern sollte, statt die jeweilige Parlamentsmehrheit entscheiden zu lassen, wie hoch der Staat sich verschuldet. Das wichtigste Argument für Schuldenregeln lautet, dass es im demokratischen Prozess eine Neigung gibt, die Staatsschulden über das aus gesamtwirtschaftlicher Sicht sinnvolle Maß hinaus auszudehnen. Soll der Staat langfristig handlungsfähig bleiben, so muss ausreichend Spielraum, etwa für zusätzliche Verschuldung in Krisenzeiten, bestehen. In Deutschland stand dies während der vergangenen Krisen nie in Frage – in anderen europäischen Ländern angesichts steigender Zinsen und hoher Schuldenstände durchaus.

Schuldenbremse zwingt Regierungen, Prioritäten zu setzen

In jeder Regierungskoalition lassen sich Konflikte darüber, welche Ausgaben Priorität haben – etwa zusätzliche Sozialleistungen, Steuerentlastungen oder Förderprogramme – kurzfristig entschärfen, indem der Staat sich verschuldet und so den heute verfügbaren Finanzspielraum erweitert. Deshalb, so die These, kommt es mit der Zeit zu einer übermäßigen Verschuldung. Das bedeutet, dass zukünftige Finanzspielräume enger werden, zukünftige Verteilungskonflikte sich also verschärfen und Handlungsspielräume schwinden. Schuldenregeln sollen dem entgegenwirken.

Leben auf Kosten der Zukunft kann allerdings auch andere Formen annehmen als Staatsverschuldung. So werden etwa oft Ausgaben gekürzt, die erst zukünftig Nutzen entfalten, um heute finanzielle Handlungsspielräume zu erweitern. Vernachlässigt werden dann aufgrund eines kurzfristigen Kalküls beispielsweise Investitionen zur Erhaltung oder Erweiterung der Infrastruktur wie Straßen und Brücken oder Ausgaben für Bildung und Forschung oder für Klimaschutz und Bewahrung der Biodiversität.

Ausnahmen für Investitionen als sinnvolle Lösung?

Kritiker werfen der geltenden Schuldenbremse vor, dass sie keine Rücksicht darauf nimmt, welche Ausgaben mit öffentlicher Verschuldung finanziert werden. Sie fordern deshalb die Einführung der sogenannten „goldenen Regel“, wonach öffentliche Investitionen mit Schulden finanziert werden dürfen. Wenn der Staat durch Investitionen Vermögen schafft, das auch zukünftig Nutzen stiftet, dann kann man argumentieren, dass zukünftige Steuerzahler auch zur Finanzierung beitragen sollten. Durch Verschuldung kann man sie an den Finanzierungslasten beteiligen. Damit verwandt ist das Argument, dass öffentliche Investitionen die zukünftige Wirtschaftsleistung steigern können und deshalb das Steueraufkommen hervorbringen, um die für ihre Finanzierung aufgenommenen Schulden zu bedienen.

Auf den ersten Blick wirkt das plausibel. Allerdings sprechen diese Argumente allenfalls dafür, Neuverschuldung in Höhe der öffentlichen Nettoinvestitionen zuzulassen. Ersatzinvestitionen, welche die Abnutzung des vorhandenen Kapitals ausgleichen, sollten nicht mit neuen Schulden finanziert werden, wenn man einen immer stärkeren Anstieg der Schulden verhindern will.

Wäre es deshalb sinnvoll, den Umstieg auf eine Regel zu fordern, die Schulden in Höhe der Nettoinvestitionen zulässt? Hier gibt es zwei Hindernisse. Erstens ist es schwierig, öffentliche Investitionen von anderen, konsumtiven Ausgaben abzugrenzen. Öffentliche Baumaßnahmen haben beispielsweise unbestritten Investitionscharakter, aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Bau von Spaßbädern, Regionalflughäfen und anderen öffentlichen Prestigeprojekten späteren Generationen oft hohe Folgekosten aufgebürdet und wenig oder gar nichts zum Produktivitätswachstum beigetragen hat.

Investitionsregel würde bei Bildung nicht greifen

Zudem vernachlässigt man beim Festhalten an einem engen Investitionsbegriff die entscheidenden Herausforderungen. Bildungsausgaben sind zum Beispiel eindeutig „Zukunftsinvestitionen“, ein großer Teil besteht aber aus Personalaufwendungen. Selbst wenn man zu einer sinnvollen Abgrenzung käme, kommt hier bei der Bestimmung der Nettoinvestitionen die Bedeutung der Abschreibungen ins Spiel. Da derzeit jedes Jahr mehr alte Menschen aus dem Erwerbsleben ausscheiden als junge eintreten, muss man berücksichtigen, dass der Bestand an Humankapital sinkt. Die Abschreibungen sind auch bei zusätzlichen Bildungsanstrengungen also erheblich größer als die Investitionen. Eine Nettoinvestitionsregel würde hier selbst bei einem deutlichen Anstieg der Aufwendungen für Bildung keine Schuldenfinanzierung erlauben, sondern eher Budgetüberschüsse erfordern. Auch Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind Investitionen, aber wie messen wir hier die Abschreibungen? Bei Investitionen in den Klimaschutz würde die Ermittlung der Nettoinvestitionen eine Bewertung des aktuellen Kapitalstocks unter Berücksichtigung zukünftiger Rahmenbedingungen erfordern, die wir erstens noch nicht kennen und die zweitens von der Politik zum Teil selbst gesetzt werden.

Bei einer Reform wäre der politische Druck groß, möglichst viele Arten öffentlicher Ausgaben als Investitionen zu klassifizieren. Bei der Berechnung der Abschreibungen bestünden ebenfalls große Spielräume. Im Ergebnis würde eine solche Reform eine starke Verwässerung der Schuldenregel und dauerhaft höhere Budgetdefizite mit sich bringen. Der Druck, wichtige Reformen schnell anzugehen, etwa bei der Rente oder beim Abbau von umweltschädlichen Subventionen, würde sinken – zulasten der jungen Menschen.

Der Charme der geltenden Schuldenregel

Die geltende Regel hat einen anderen Ansatz. Sie versucht erst gar nicht, investive und konsumtive Staatsausgaben abzugrenzen, und sieht stattdessen vor, dass man für größere staatliche Schuldenfinanzierungen außerhalb von Notsituationen eine von zwei Bedingungen erfüllen muss: Entweder es handelt sich so eindeutig um investive Ausgaben, so dass sie durch die Beteiligung an öffentlichen oder privaten Unternehmen finanziert werden können. Dann sind die Ausgaben für die Berechnung der Schuldenbremse nicht relevant. Oder die Ausgaben haben so breite gesellschaftliche Unterstützung, dass man dafür im Parlament eine Zweidrittelmehrheit erhält wie etwa im Fall der Sonderverschuldung für die Bundeswehr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Ansonsten sorgt die Schuldenbremse dafür, dass die Politik sich der unbequemen, aber wichtigen Aufgabe stellen muss, Prioritäten zu setzen, zwischen wichtigen und weniger wichtigen Staatsausgaben oder wichtigen und weniger wichtigen steuerlichen Be- und Entlastungen zu unterscheiden. So wird sichergestallt, dass für Notsituationen, die nicht zuletzt aufgrund der weltpolitischen Lage vermehrt auftreten könnten, stets ausreichende Spielräume erhalten bleiben.

Diagramm: Staatsverschuldung in Deutschland in % des BIP (IWF, 2007-2022)

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Veronika Grimm
Professorin für Volkswirtschaftslehre, insb. Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Erschienen unter dem Titel „Deutschland in der Haushaltskrise: Hat die Schuldenbremse eine Zukunft?“, Der Tagesspiegel, 4. Dezember 2023

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