Stellungnahme -

ifo Standpunkt 254: Industriestandort Deutschland

Die deutsche Wirtschaft befindet sich derzeit in einer schwierigen Lage. Als einziger unter den G7-Staaten erwartet Deutschland 2023 ein schrumpfendes Bruttoinlandsprodukt. Die Zeitschrift „Economist“ fragt, ob Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“ sei, ähnlich wie in den späten 1990er-Jahren. Das Ende der russischen Gasimporte durch Nord Stream und steigende Energiepreise haben die energieintensive Industrie in Deutschland dazu veranlasst, die Produktion zurückzufahren. Mehrere Unternehmen wollen Standorte in Länder mit niedrigeren Energiepreisen verlagern. All dies hat zu einer Debatte darüber geführt, ob Deutschland von Deindustrialisierung bedroht ist.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Diese Debatte wirft verschiedene Fragen auf. Erstens ist zu klären, ob es sich um vorübergehende oder dauerhafte Probleme handelt. Wenn die Schwierigkeiten der deutschen Industrie allein Folge der aktuellen Krisen wären, könnte man hoffen, dass es sich nur um eine Delle handelt, aber kein dauerhafter Abbau droht. Zweitens durchlaufen die hochentwickelten Volkswirtschaften schon seit geraumer Zeit einen Strukturwandel weg von industrieller Produktion hin zu Dienstleistungen. Das wirft die Frage auf, ob Deindustrialisierung überhaupt nachteilig wäre. Drittens ist zu klären, welchen Beitrag die Wirtschafts- und Finanzpolitik leisten kann und sollte, um unerwünschte Deindustrialisierung zu verhindern.

Probleme der deutschen Industrie: Vorübergehend oder dauerhaft?

Ausgelöst wurde die aktuelle Debatte über Deindustrialisierung durch den russischen Angriff auf die Ukraine. Dabei steht die Energieverknappung im Vordergrund. Bislang sorgte die über Jahrzehnte hinweg stabile energiepolitische Kooperation mit Russland dafür, dass Deutschland durch die europäische Integration des Gasmarkts insbesondere in Nordwesteuropa mit vergleichsweise preisgünstigem Erdgas versorgt wurde. Es war sogar geplant, die Gasimporte auszubauen. Preislich lag die Erdgasversorgung für die deutsche Industrie zwischen dem niedrigen Niveau in den USA und dem höheren Niveau in Asien, das schon bislang stärker als Europa auf Flüssiggasversorgung zurückgreifen musste. Durch den Rückgang der Gasimporte aus Russland seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und durch die Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines hat sich Gas in Europa stark verteuert. Selbst wenn zügig weitere neue Flüssiggasterminals gebaut werden würden, würde Europa beim Erdgaspreis gegenüber den USA und Asien an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Man muss davon ausgehen, dass diese Verschiebung dauerhafter Natur ist. Selbst wenn der Ukraine-Krieg bald beendet werden würde, wäre kaum zu erwarten, dass die Gasimporte aus Russland wieder aufgenommen werden würden. Für den Industriestandort Deutschland ist diese Verknappung von Erdgas auch deshalb gravierend, weil Gas nach bisheriger Planung bei der Dekarbonisierung der Energieversorgung eine wichtige Rolle spielen sollte. Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Stromproduktion mit Kohle sollte ein Ausbau der Gaskraftwerke in Deutschland dazu beitragen, die entstehende Lücke zu füllen und die wetterbedingt schwankende Stromversorgung aus Wind und Sonne ergänzen. Dekarbonisierung der Industrieproduktion bedeutet zugleich, dass die Stromnachfrage aus der Industrie stark zunimmt. Ähnliche Wirkung haben die Umstellung des Verkehrs auf Elektrofahrzeuge und die vermehrte Heizung von Gebäuden mit Wärmepumpen statt Öl- oder Gasheizungen. Zwar wird durch Elektrifizierung von industriellen Prozessen und Heizungen auch Gas eingespart, aber trotzdem bleibt die Gasverknappung für die Stromversorgung der kommenden Jahre ein Problem.

Eine zweite Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine besteht darin, dass geopolitische Risiken für bestehende Wirtschaftsbeziehungen erhöhte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Spannungen zwischen den USA und China nehmen zu. Das Szenario eines Konflikts zwischen China und Taiwan ist als Abwärtsrisiko für die Weltwirtschaft verstärkt ins Bewusstsein getreten. Zwar hatten diese Risiken schon vor dem Ukraine-Krieg bestanden, aber sie waren weitgehend verdrängt worden. Nach der russischen Aggression und der Unterstützung Chinas für Russland ist die Gefahr eines geopolitischen Konflikts mit China nicht länger zu ignorieren. Da die deutsche Industrie besonders stark mit China verbunden ist, verstärken diese Spannungen die Sorgen um den Industriestandort Deutschland. Auch bei dieser Veränderung ist nicht davon auszugehen, dass sie vorübergehender Art ist.

Darüber hinaus hängt die Zukunft des Industriestandorts Deutschland davon ab, ob es gelingt, längerfristige und grundlegende Herausforderungen zu bewältigen. Dazu gehören die Verknappung von Arbeitskräften im Rahmen des demografischen Wandels, die Digitalisierung und die bereits erwähnte Dekarbonisierung. Dass die Schwierigkeiten der deutschen Industrie mehr sind als eine krisenbedingte, aber vorübergehende Schwäche, passt zu der Tatsache, dass die Industrieproduktion in Deutschland schon seit längerer Zeit sinkt, auch im Vergleich zur Industrieproduktion im Euroraum insgesamt.

Strukturwandel hin zu Dienstleistungen und Deindustrialisierung

In den hoch entwickelten Volkswirtschaften findet seit Jahrzehnten ein Strukturwandel statt, bei dem der Anteil der Industrieproduktion sinkt, zugunsten der Dienstleistungen. Deutschland ist ein eher untypischer Fall mit einem in den vergangenen zwei Jahrzehnten fast stabilen Industrieanteil. Gerade in Deutschland ist die Auffassung verbreitet, dass ein hohes Wohlstandsniveau einen hohen Industrieanteil erfordert. Das erscheint auf den ersten Blick schwer vereinbar mit der Tatsache, dass es unter den führenden Wirtschaftsnationen keinen systematischen Zusammenhang zwischen dem Industrialisierungsgrad und ihrer Wachstumsleistung gibt. Beispielsweise hatten Länder wie Japan und Italien im Jahr 2000 einen deutlich höheren Industrialisierungsgrad als die USA, Australien oder das Vereinigte Königreich. Ihre Wirtschaftsleistung hat sich seitdem aber deutlich schlechter entwickelt. Deutschland hatte ebenfalls einen hohen Industrieanteil und wies eine bessere Wirtschaftsentwicklung auf, auch wenn das Land mit den USA nicht mithalten konnte. All dies deutet darauf hin, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen Industrialisierungsgrad und Wachstum gibt, sondern eher unterschiedliche Wachstumsmodelle, die Unterschiede in den komparativen Vorteilen der verschiedenen Länder reflektieren. Das Wirtschaftswachstum der USA wurde stark durch die Entwicklung der Digitalunternehmen getrieben, in Australien sind es eher die Rohstoffproduzenten. Für Deutschland gilt jedoch, dass seine Wirtschaft zumindest bislang offenbar tatsächlich komparative Vorteile im Bereich der Industrie und in der Organisation hocheffizienter internationaler Wertschöpfungsketten aufgewiesen hat. Wenn das zutrifft, ist es zumindest leichtfertig, Deindustrialisierung in Deutschland schulterzuckend hinzunehmen. Es ist nicht selbstverständlich, dass eine Schrumpfung der Industrie durch wachsende Wertschöpfung in anderen Sektoren ausgeglichen werden kann. Das führt zu der wichtigen Frage, was die Wirtschafts- und Finanzpolitik angesichts der Herausforderungen für den Industriestandort tun sollte.

Wirtschafts- und finanzpolitischer Handlungsbedarf

Derzeit wird als Maßnahme zur Bekämpfung von Deindustrialisierung in Deutschland vor allem die Einführung eines subventionierten Industriestrompreises diskutiert. Dabei sind unterschiedliche Gestaltungen denkbar. Beispielsweise ist vorgeschlagen worden, der Industrie Strom für 6 Cent pro Kilowattstunde (KWh) zur Verfügung zu stellen (und bei „Tariftreue“ sogar für 5 Cent pro KWh). Um Energiesparanreize zu erhalten, soll sich dies auf 80 % des Stromverbrauchs (oder eines verbrauchsunabhängigen Kontingents) in einem Referenzjahr beschränken. Wenn man davon ausgeht, dass die Verteuerung von Energie in Deutschland dauerhaft ist, liegt es auf der Hand, dass eine derartige Subventionierung des Energieverbrauchs selbstschädigend wäre. Befürworter des Konzepts argumentieren allerdings, die Subvention müsse nur vorübergehend gezahlt werden, weil der Ausbau der erneuerbaren Energien Deutschland in einigen Jahren ohnehin sinkende Strompreise bescheren werde. Die Strompreissubvention stelle lediglich eine Brücke in diese Zukunft dar.

Diese Argumentation hat drei Schwächen. Erstens legen aktuelle Studien den Schluss nahe, dass die Stromkosten in Deutschland trotz des Ausbaus von Wind- und Sonnenkraft dauerhaft höher sein werden als in vielen anderen Ländern. Das liegt nicht nur daran, dass in anderen Ländern die Sonne länger scheint und mehr Wind weht. Hinzu kommt, dass Deutschland mit dem Atomausstieg und dem Verzicht auf eigene Schiefergasförderung eine sehr spezielle und enge Politik verfolgt, die das Energieangebot im eigenen Land verknappt.

Zweitens wäre eine Strompreissubvention auch dann kaum zu begründen, wenn die Aussicht auf zukünftig niedrige Strompreise realistisch wäre. In diesem Fall sollte man die Entscheidungen der Unternehmen, wie man die vorübergehend hohen Strompreise überbrückt, nicht durch Subventionen verzerren. Ein Marktversagen, das derartige Eingriffe rechtfertigt, ist nicht erkennbar.

Drittens ist zu beachten, dass die Beschaffung von Strom zu möglichst günstigen Kosten heute eine wichtige Managementaufgabe ist. Ein staatlich garantierter Strompreis könnte je nach Gestaltung die Anreize, möglichst günstig Strom einzukaufen und dafür entsprechende Anpassungen vorzunehmen, beeinträchtigen oder sogar ganz beseitigen. Das wäre kontraproduktiv. Der Vorschlag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima sieht allerdings vor, den Unternehmen die Differenz zwischen dem Börsenstrompreis und 6 Cent pro KWh zu erstatten. Dann würden die Anreize für das einzelne Unternehmen, Strom möglichst günstig zu beschaffen, gewahrt bleiben. Dennoch führt letztlich kein Weg daran vorbei, dass sich die deutsche Industrie an die veränderten Energiepreise anpasst. Dabei wird nicht zu verhindern sein, dass besonders energieintensive Teile der Produktion abwandern oder ausgelagert werden. Entscheidend ist, dass dieser Verlust an Wertschöpfung durch andere Aktivitäten ausgeglichen wird. Das kann zum einen durch die Expansion anderer Industrieunternehmen erfolgen. Die deutsche Wirtschaft verfügt nach wie vor über viele Unternehmen, die mit großem Erfolg auf heimischen und globalen Märkten agieren. Zu nennen sind hier vor allem die sogenannten Hidden Champions, also hochproduktive Unternehmen, die teils in extremer Spezialisierung und durch Innovationen zu Weltmarktführern in ihren Märkten aufgestiegen sind. Diesen Unternehmen bessere Bedingungen für ihre Entwicklung zu verschaffen, kann einen wichtigen Beitrag leisten. Zum anderen ist es wichtig, die Potenziale für Unternehmensgründungen besser zu nutzen.

Breit angelegte Angebots- und Standortpolitik erforderlich

Den Industriestandort Deutschland erfolgreich in die Zukunft zu führen, erfordert eine breit angelegte Angebots- und Standortpolitik. Das Wachstumschancengesetz hat erste Schritte in diese Richtung getan, indem die steuerlichen Rahmenbedingungen für Investitionen verbessert worden sind. Das reicht aber bei weitem nicht aus. Von zentraler Bedeutung wäre ein Reformpaket zur Stärkung des Arbeitsangebots. Es sollte veränderte Anrechnungsregeln beim Bürgergeld, eine Reform der Familienbesteuerung, bessere Kinderbetreuung und eine Verbesserung der Anreize für eine längere Lebensarbeitszeit enthalten. Reformen der Schulen und der beruflichen Bildung und Weiterbildung könnten die Arbeitsproduktivität steigern. In der Energiepolitik sollte das Ziel darin bestehen, mit Marktsignalen, also an aktuellen Knappheiten orientierten Preisen, und dem Ausbau der Infrastruktur eine effizientere Nutzung des vorhandenen Energieangebots zu erreichen. Deutschland hat außerdem ein hohes Interesse an einer Vertiefung der Integration des europäischen Energiemarkts. Bürokratieabbau, ein schnellerer Ausbau der Infrastruktur für Verkehr und Datenübertragung und mehr Offenheit und weniger restriktive Regulierungen für digitale Geschäftsmodelle sind weitere Bausteine dieser Agenda. Die Herausforderungen für den Industrie- und Wirtschaftsstandort sind groß, und die Gefahr einer Deindustrialisierung ist durchaus ernst zu nehmen. Die gute Nachricht lautet: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik hat Möglichkeiten, Bedingungen zu schaffen, die es erlauben, diese Herausforderungen zu meistern.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Industriestandort Deutschland“, Monatsbericht des BMF, Oktober 2023

 

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2023
ifo Standpunkt Nr. 254
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