Stellungnahme -

ifo Standpunkt 233: Der Koalitionsvertrag – Lust auf Neues

Angela Merkel wurde nachgesagt, gerne Erwartungsmanagement zu betreiben. Wer wenig verspricht, muss keine Kritik fürchten, wenn nichts erreicht wird. Die Ampel-Regierung agiert anders. Ihr Koalitionsvertrag ist ambitioniert. Sie will die Digitalisierung und Dekarbonisierung der Wirtschaft massiv beschleunigen und dabei Wohlstand und Inklusion bewahren. 

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Der Charme des Plans liegt darin, dass er von dem Willen geprägt ist, die Zukunft zu gestalten. Jenseits der Kernbereiche Digitalisierung und Klimaschutz gibt es allerdings auch Themen, bei denen Reformbereitschaft fehlt. 

Die Stärke dieses Koalitionsvertrags liegt nicht nur in der Bereitschaft, Risiken einzugehen, um Chancen zu ergreifen. Sie liegt auch darin, dass viele der Projekte durchdacht sind und wissenschaftliche Konzepte berücksichtigen. Das gilt für wichtige Teile der Klimapolitik. Der CO2-Preis soll eine zentrale Rolle spielen. Alle Sektoren sollen mittelfristig dem europäischen Zertifikatehandel unterliegen.

Technologieoffenheit bei der Klimapolitik

Man will mehr Technologieoffenheit wagen. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie soll durch Lösungen wie den CO2-Grenzausgleich geschützt werden. Da Klimaschutz nur global funktioniert, wird ein Klimaclub mit anderen Ländern angestrebt. Investitionen zur Anpassung an den Klimawandel spielen eine bedeutende Rolle.  Die Umsetzung dieser Pläne wird dauern, und viele Fragen sind offen. Aber die Gesamtstrategie ist im Vergleich zu der bisherigen eher kleinteiligen, an Sektorzielen und dirigistischen Eingriffen orientierten Klimapolitik ein Fortschritt. 

In der Energiepolitik skizziert der Plan den Weg zur Klimaneutralität. Erneuerbare Energien werden ausgebaut, ebenso Stromnetze und Wasserstoffleitungen. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sollen nach dem Kohle- und Atomausstieg Gaskraftwerke eingesetzt werden, die man später auf Wasserstoff umstellen will. Ob das wirtschaftlich und technisch machbar ist, muss sich allerdings erst noch zeigen. Damit dieser Umbau überhaupt in der dafür verfügbaren Zeit funktionieren kann, will die Koalition Planungsverfahren drastisch verkürzen.

Querschnittsaufgabe Digitalisierung

Das zweite prägende Thema, die Digitalisierung, sieht die Ampel-Regierung zu Recht als Querschnittsaufgabe. Die Koalitionäre versprechen Investitionen zur Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, der Schulen und Universitäten sowie den Ausbau der digitalen Infrastruktur. Die Aus- und Weiterbildung in digitalen Fähigkeiten soll ebenso gefördert werden wie die Datensicherheit und die Entwicklung digitaler Schlüsseltechnologien. Besonders wichtig ist, dass der Zugang zu öffentlichen und privaten Daten für Unternehmen und Bürger und die Datenteilung gestärkt werden sollen. Das kann einen Innovations- und Gründungsschub auslösen. Die gesamtstaatlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung sollen von zuletzt 3,2 auf 3,5% des Bruttoinlandsprodukts steigen. Ein kritischer Punkt bei all diesen Projekten ist die Finanzierung. 

Finanzierung durch Umschichten von Schulden teilweise ungeklärt

Es ist zu begrüßen, dass sich die Ampel-Koalitionäre nicht auf den leichten Weg der Schuldenfinanzierung beschränken, sondern Ausgaben umschichten wollen. Offen ist allerdings, in welchem Umfang Kürzungen in anderen Bereichen zur Finanzierung der neuen Vorhaben beitragen können. Kurzfristig sind derartige Kürzungen schwierig, mittelfristig kann man mehr erreichen. Deshalb sollte man einen über die Jahre wachsenden Beitrag der Ausgabenkürzungen vorsehen.

Die Finanzierung durch mehr Staatsverschuldung wird durch die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse beschränkt. Erlaubt ist es allerdings, Kredite für Nebenhaushalte aufzunehmen, beispielsweise für öffentliche Banken wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau oder für die Deutsche Bahn. Außerdem wird die Schuldenbremse wegen der Coronakrise bis zum Jahr 2022 ausgesetzt. Bis dahin können schuldenfinanzierte Reservetöpfe gebildet werden, die künftige Investitionen finanzieren. Kritiker monieren, die Verschuldung in Nebenhaushalten entziehe die Finanzpolitik der demokratischen Kontrolle. Deshalb will die Koalition die parlamentarische Aufsicht ausbauen und für mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit sorgen. 

Wie überzeugend das Finanzierungspaket ist, wird letztlich daran zu messen sein, ob die versprochenen Ausgabenumschichtungen wirklich einen signifikanten Beitrag leisten. 

Ganzheitliche Reform des Steuer- und Transfersystems

Die Bereitschaft, komplexe ökonomische Probleme wissenschaftlich fundiert anzugehen, zeigt sich auch in dem Vorhaben, Hindernisse für Erwerbstätigkeit im bestehenden Steuer- und Transfersystem abzubauen. Eine Fachkommission soll Reformen vorschlagen, die dafür sorgen, dass Menschen, die durch eigene Arbeit ein höheres Bruttoeinkommen erarbeiten, auch ein höheres Nettoeinkommen erzielen. Heute kann es passieren, dass ihr Nettoeinkommen wegen entfallender Transfers sogar sinkt. 

Die Besteuerung von Ehegatten soll so reformiert werden, dass stärkere Beschäftigungsanreize für die Zweitverdiener entstehen. Die Stärkung der Erwerbsanreize ist auch deshalb wichtig, weil in den kommenden Jahren mit der Alterung der Bevölkerung Arbeitskräfte knapper werden. Die Koalitionäre wollen deshalb ältere Menschen länger im Berufsleben halten, die Aus- und Weiterbildung stärken und die Hürden für Zuwanderung in den Arbeitsmarkt senken. 

Offene Fragen in der Renten- und Steuerpolitik

Der Koalitionsvertrag hat allerdings auch Schwächen. Die umlagefinanzierte Rentenversicherung zu lassen, wie sie ist, und ein höheres Rentenzugangsalter auszuschließen, ist nicht nachhaltig. Die Alterung der Bevölkerung wird Reformen erzwingen. Einen steuerfinanzierten Kapitalstock für die Rente anzusparen, kann Änderungen bei der umlagefinanzierten Rente nicht ersetzen.

Bei der Steuerpolitik ist zu begrüßen, dass von der Krise betroffene Unternehmen durch erweiterte Verlustrückträge gestützt werden. Beschleunigte Abschreibungen stärken das Wachstum. Allerdings sollten sie nicht auf die ohnehin stark geförderten Bereiche Klimaschutz und Digitalisierung begrenzt werden. Besser wäre es, Investitionen breiter anzuregen, auch wenn die Förderungsintensität dann geringer ausfällt. Was fehlt, ist die Bereitschaft zu einer grundlegenden Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung, die überfällig ist. Die Vorstellungen der Koalitionspartner waren hier wohl zu verschieden. 

Weiterentwicklung europäischer Verschuldungsregeln

Finanzpolitisch bedeutsam erscheint außerdem die Weiterentwicklung der europäischen Verschuldungsregeln und des Bankensystems. Es ist richtig zu fordern, dass Banken, die größere Portfolios heimischer Staatsanleihen halten, diese mit Eigenkapital unterlegen. Die Bundesregierung sollte das zur Bedingung dafür machen, die Staatsschuldenregeln zu reformieren. Die Eigenverantwortung der Euro-Mitgliedstaaten und die Haftung ihrer privaten Gläubiger zu stärken, ist wichtig. Lediglich Verschuldungsregeln aufzuweichen erhöht nur das Risiko, dass Kosten der Überschuldung einzelner Staaten auf Steuerzahler anderer Länder abgewälzt werden.   

Die Ampel-Koalitionäre schreiben, dass sie „Lust auf Neues“ haben. Ihrem Regierungsprogramm ist das anzusehen. Auch wenn die Umsetzung unweigerlich schwierig wird und die vierte Coronawelle den Regierungswechsel überschattet: Der Anfang dieser Regierung stimmt zuversichtlich.  

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts


Erschienen unter dem Titel “Lust auf Neues“, Handelsblatt, 29. November 2021
 

ifo Standpunkt
Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2022
ifo Standpunkt Nr. 233
Das könnte Sie auch interessieren

Artikel

ifo Standpunkte