Stellungnahme -

ifo Standpunkt 229: Wirtschaftspolitik der neuen Bundesregierung: Nationale Aufgaben angehen, europäische und globale Herausforderungen nicht vernachlässigen

Unabhängig davon, welche Koalition es am Ende sein wird: Deutschland braucht eine Regierung, die in der Lage ist, große ökonomische und politische Herausforderungen zu bewältigen – Herausforderungen, die im Wahlkampf nur zum Teil eine Rolle spielten: die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, der demografische Wandel, die Klimakrise, die Digitalisierung, die europäische Integration und geopolitische Veränderungen. Das alles erfordert entschlossenes Handeln und Veränderungsbereitschaft.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Beschäftigung und Investitionen fördern

Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der neuen Regierung muss die noch fragile Konjunkturerholung nach der Coronakrise schützen und Wirtschaftswachstum fördern. Wachstum zu erreichen wird deutlich schwerer als in den Jahren vor der Pandemie, weil mit der Alterung der Bevölkerung die Zahl der Menschen im Erwerbsalter sinkt. Es ist deshalb erforderlich, Beschäftigungshindernisse im Steuer- und Transfersystem abzubauen. Besonders wichtig ist das für Menschen, die nicht viel verdienen: Denn bei ihnen sorgt das ungünstige Zusammenspiel von Hartz-IV-Regeln und anderen Transfers dafür, dass sich Arbeiten über eine Teilzeitstelle hinaus oft nicht lohnt. 

Eine Umstellung der Ehegattenbesteuerung auf Realsplitting und ein weiterer Ausbau der Kinderbetreuung würden vor allem die Erwerbstätigkeit von Frauen erhöhen. Wachstum hängt außerdem von öffentlichen und insbesondere privaten Investitionen ab. In der Unternehmensbesteuerung könnten beschleunigte Abschreibungen und bessere Verlustverrechnungen Anreize setzen, in Deutschland neue Produktionsstätten aufzubauen und innovative Unternehmen zu gründen. 

Bei der digitalen Transformation hat Deutschland Nachholbedarf

Bei der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hat Deutschland erheblichen Nachholbedarf. Dabei geht es nicht nur um den Ausbau der digitalen Infrastruktur, sondern auch um eine bessere Vermittlung digitaler Kompetenzen in der Schule und die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Nicht zuletzt gehört dazu mehr Bereitschaft, digitale Geschäftsmodelle, die etablierte Interessen in Frage stellen, zuzulassen, statt sie zu behindern. Es reicht nicht, Digitalisierung im Prinzip zu wollen, aber Unternehmen wie Uber, Airbnb oder Online-Apotheken mit Verboten und Regulierungen zu überziehen.       

Klimapolitik effizient gestalten

In der Klimapolitik ist ein Umdenken nötig. Teile der Politik setzen zu sehr auf starre sektorale Ziele für die Minderung von Emissionen und pauschale Ver- und Gebote, die den Klimaschutz unnötig verteuern. Das gilt beispielsweise für das Verbot von Verbrennungsmotoren und die Pflicht, auf jedem Dach Solarzellen zu installieren, auch wenn das Haus im Schatten steht. Besser wäre es, den CO2 Preis und das europaweite System des Handels von Emissionsrechten stärker in den Vordergrund zu stellen und dafür zu sorgen, dass wichtige Investitionen in den Ausbau von Infrastrukturen wie Ladesäulen für Elektrofahrzeuge und Bahnstrecken vorankommen. 

Es gilt außerdem, Dekarbonisierung mit einer sicheren und für Industrieansiedlung preislich wettbewerbsfähigen Stromversorgung zu verbinden. Da die Klimaerwärmung weitgehend unabhängig von der deutschen Klimapolitik weitergehen wird, müssen Investitionen vorangetrieben werden, die eine Anpassung an steigende Temperaturen zum Ziel haben, zum Beispiel besserer Schutz vor Überflutungen und Stürmen.  

Konflikte zwischen Verteilungs- und Wachstumszielen vermeiden

Breite Teilhabe am Wohlstand ist ein grundlegendes Ziel der Wirtschaftspolitik. Im Bundestagswahlkampf wurde vor allem die Forderung nach mehr Umverteilung durch eine Nettovermögensteuer diskutiert. Bei diesem Instrument entsteht ein scharfer Konflikt zwischen Wachstums- und Verteilungszielen. Es wäre klüger, wenn sich die Politik auf Maßnahmen konzentriert, die sowohl Inklusion als auch Wachstum fördern. Dazu gehören vor allem Investitionen in Bildung, aber auch Existenzgründungshilfen, die Förderung der Eigentumsbildung bei Menschen mit niedrigen Einkommen beispielsweise durch Mietkaufmodelle und eine effektive Wettbewerbspolitik. Monopole und Kartelle schädigen das Wirtschaftswachstum und verschärfen die Ungleichheit.

Deutsche und europäische Interessen in der Welt verteidigen

Das Thema Außen- und Europapolitik kam im Wahlkampf praktisch nicht vor, spielt für die Zukunft Deutschlands aber eine zentrale Rolle. Zwischen China und den USA bahnt sich ein zweiter Kalter Krieg an. Um in diesem Umfeld ihre Interessen zu wahren, muss die Europäische Union endlich mit einer Stimme sprechen. Derzeit sind die EU-Staaten noch nicht einmal in der Lage, in ihrer direkten Nachbarschaft, beispielsweise gegenüber Russland und im Nahen Osten, ohne Hilfe der USA wirksam zu agieren. Wie gefährlich das ist, wurde während der Präsidentschaft von Donald Trump deutlich. Sein Nachfolger Joe Biden ist den Europäern zwar deutlich freundlicher gesonnen, aber es ist nicht auszuschließen, dass Donald Trump oder ein anderer Populist sich bei den nächsten Wahlen durchsetzt. 

Gegenüber China hat die EU Interessen, die sich teilweise mit denen der USA decken, teilweise aber auch nicht. Für Europa ist China als Partner bei Handel und Direktinvestitionen wichtiger als für die USA; das gilt auch für das chinesische Megaprojekt der „Neuen Seidenstraße“. Die globale Dominanz des US-Dollar im Wirtschaftsverkehr verstärkt die Abhängigkeit der EU von den USA und macht die europäische Wirtschaft anfällig für US-Sanktionen. Es gilt, den Euro als internationale Reserve- und Transaktionswährung zu stärken. All das bedeutet nicht, die transatlantische Zusammenarbeit in Frage zu stellen – es geht vielmehr darum, Europa zu einem Partner auf Augenhöhe zu machen und den Schaden zu begrenzen, den ein zweiter Donald Trump dem alten Kontinent zufügen könnte. 

Die nächste Bundesregierung hat die dringende Aufgabe, die europäische Integration so voranzutreiben, dass die EU diese Aufgaben erfüllen kann. Dafür müssen Finanzmittel und Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert werden, und Entscheidungen auf europäischer Ebene brauchen stärkere demokratische Legitimierung, etwa indem das EU-Parlament das Recht zu eigenen Gesetzesinitiativen bekommt.

Eurozone braucht Gleichgewicht aus Solidarität und Eigenverantwortung

Die neue Bundesregierung hat aber auch die Aufgabe, europäischen politischen Initiativen entgegenzutreten, wenn sie Schaden anrichten. Derzeit gewinnen Forderungen an Einfluss, die Staatsverschuldungsregeln in der Eurozone weiter aufzuweichen oder sie ganz abzuschaffen und die Schuldenfinanzierung von Staatsausgaben auf europäischer Ebene zur Regel zu machen. Dabei besteht die Gefahr, dass Kosten nationaler Versäumnisse in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf die Gemeinschaft abgewälzt werden. Deutschland hat ein dringendes Interesse daran, die Eurozone so weiterzuentwickeln, dass Solidarität in Krisensituationen einerseits und Disziplin und Eigenverantwortung andererseits in einem sinnvollen Gleichgewicht bleiben. Wirksame Schritte für mehr Finanzdisziplin und Stabilität wie etwa die Pflicht für Banken, Investitionen insbesondere in heimische Staatsanleihen mit Eigenkapital zu unterlegen, müssen dringend auf die europapolitische Agenda. Kurzum: Es ist höchste Zeit für eine politische Wende. 


Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Höchste Zeit für eine politische Wende“, Handelsblatt, 1. Oktober 2021

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