Stellungnahme -

ifo Standpunkt 228: Die Ära Merkel: Eine Bilanz der Haushalts- und Finanzpolitik

Die haushalts- und finanzpolitische Bilanz der Ära Merkel enthält Licht und Schatten. Der größte Erfolg liegt darin, dass die Stabilität der deutschen Staatsfinanzen in dieser Zeit weniger gelitten hat als in anderen Ländern, obwohl die Wirtschaft die beiden tiefsten Wirtschaftskrisen seit dem Zweiten Weltkrieg überstehen musste – die globale Finanzkrise und die Corona-Pandemie. Die wichtigste Schwäche ist die mit der Zeit nachlassende Bereitschaft zu weitsichtigen Reformen und die zunehmende Tendenz zu kurzfristig und wahltaktisch orientierter Finanzpolitik.   

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Der sichtbarste Indikator für die Stabilität der deutschen Staatsfinanzen ist die Staatsschuldenquote, also das Verhältnis aus Staatsschulden und Bruttoinlandsprodukt. Sie lag im Jahr 2005, als Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, bei 67%, stieg während der globalen Finanzkrise im Jahr 2010 auf 82%, sank bis zum Jahr 2019 aber wieder auf 60%. Durch die Coronakrise wird die Quote in diesem Jahr voraussichtlich wieder über 70% liegen. Aber dieser Anstieg ist in einer tiefen Krise auch sinnvoll. 

Stabilität der Staatsfinanzen 

Die Finanzen anderer europäischer Länder haben sich deutlich schlechter entwickelt. Frankreichs Staatsschuldenquote lag 2005 ebenfalls bei 67% und stieg in Folge der globalen Finanzkrise bis 2010 auf 85%. Anders als in Deutschland stieg sie danach jedoch weiter an und erreichte im Jahr 2019 98%. Italien hatte 2005 mit Staatsschulden von 107% der Wirtschaftsleistung bereits eine schlechtere Ausgangsposition. Die Kombination aus Finanz- und Eurokrise warf das Land wirtschaftlich weiter zurück, 2019 lag die Schuldenquote dort bei 135%. In Folge der Coronakrise wird die Quote voraussichtlich auf Werte um 160% steigen. 

Die hohe Verschuldung der Partnerländer hat mittlerweile allerdings auch für Deutschland Konsequenzen. Als die Coronakrise ausbrach, drohte an den Finanzmärkten eine Wiederholung des Vertrauensverfalls, der Italien und andere Länder in der Eurokrise an den Rand des Staatsbankrotts gebracht hatte. Um das abzuwenden, wurde mit dem Rettungsfonds „Next Generation EU“ ein umfangreiches Transferprogramm aufgelegt, bei dem Deutschland Nettozahler ist. Zu verhindern, dass die Probleme der Eurokrise zurückkehren, lag auch im deutschen Interesse. Kritiker bemängeln dennoch, die finanzpolitische Disziplin Deutschlands führe nur dazu, dass das Land Transfers an Staaten zahlen muss, die sich weniger anstrengen, ihre Finanzen unter Kontrolle zu halten.

Mit wenig Anstrengung zur Austerität

Wie groß waren finanzpolitische Anstrengungen und Disziplin in Deutschland wirklich? Der Rückgang der deutschen Schuldenquote um 22 Prozentpunkte in den Jahren zwischen 2010 und 2019 ist Folge erheblicher Haushaltsüberschüsse, die mit der von Finanzminister Wolfgang Schäuble vertretenen Politik der „schwarzen Null“ eingeleitet wurden. Übermäßig anstrengen musste sich die deutsche Finanzpolitik dafür allerdings nicht. Gelegentlich wird behauptet, der Bevölkerung sei „Austerität“ zugemutet worden oder man habe öffentliche Investitionen vernachlässigt. Tatsächlich kann von Austerität zumindest bei den Ausgaben keine Rede sein. Die öffentlichen Ausgaben ohne Zinsen und Investitionen betrugen 2019 41,6% des BIP und lagen damit ungefähr so hoch wie 2005, mit 42%. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es 2005 etwa doppelt so viele Arbeitslose gab wie 2019, die unterstützt werden mussten. Austerität in Form sinkender konsumtiver Staatsausgaben gab es also nicht. Es gab auch keine Kürzungen der Investitionen, im Gegenteil: Der Anteil der öffentlichen Investitionen am BIP stieg sogar um ein Viertel, von rund 2% 2005 auf 2,5% 2019. Sicherlich hätte man hier mehr tun können, vor allem bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors. Aber hier fehlten wohl eher Agilität und Problembewusstsein als Geld. 

Ermöglicht wurde die „schwarze Null“ durch zwei andere Faktoren: Der erste ist der Zinsrückgang. 2005 betrugen die öffentlichen Zinsausgaben noch 2,8“ des BIP. 2019 waren es nur noch 0,8%. Der zweite Faktor ist eine steigende Steuerlast: Die Abgabenquote stieg von 38,8% im Jahr 2005 auf 41% im Jahr 2019.     

Auch wenn die „schwarze Null“ Angela Merkel also quasi in den Schoß gefallen ist, muss man anerkennen, dass diese Politik Deutschland finanzielle Spielräume verschafft hat. In der Coronakrise konnte Deutschland die Konjunktur massiv stützen, ohne befürchten zu müssen, dass das Vertrauen in die finanzielle Solidität des Landes leidet.

Realitätsflucht der Sozialpolitik

Diesen stabilitätspolitischen Erfolgen steht ein Verfall der Reformbereitschaft vor allem in der Steuer- und Sozialpolitik gegenüber. In den frühen Jahren der Ära Merkel war das noch anders. 2008 wurde die Unternehmensbesteuerung neu geordnet, unter anderem sank der Steuersatz auf Unternehmensgewinne von 38 auf 30%. Es folgt die Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009. Beide Reformen sind bis heute umstritten. Aber die Politik hat gehandelt, um die langfristige Wachstumsentwicklung und die Stabilität der Staatsfinanzen zu stärken. 

In den Jahren danach richtete sich die Finanz- und Haushaltspolitik stattdessen eher auf das Verteilen von Wohltaten aus. Dabei erschien Wahltaktik wichtiger als sozialpolitische Zielgenauigkeit. Das betrifft vor allem die Rentenpolitik. Beispiele sind die Rente ab 63, die Mütterrente und die Grundrente. Der Vorwurf, dass diese Leistungsausdehnung angesichts der Demografie Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit gefährde, wurde mit dem Versprechen der „doppelten Haltelinie“ beantwortet. Danach sollen die Renten nicht unter ein gewisses Niveau sinken, die Beiträge aber auch nicht über einen Höchstwert steigen. Diese Politik erweckt den Eindruck, dass das Geld, mit denen die künftigen Renten bezahlt werden, wohl vom Himmel fallen wird. Die vielleicht unpopuläre, aber notwendige Antwort auf die Frage, wie die absehbaren Finanzlücken gefüllt werden sollen, wird verweigert. In der Kranken- und Pflegeversicherung gibt es ähnliche Probleme.   

Erlahmende Reformkräfte

Zu dieser Realitätsflucht in der Sozialpolitik hat sich eine Reformverweigerung in der Steuerpolitik gesellt. Andere Länder haben in den letzten zehn Jahren Steuern für Unternehmen gesenkt, um Investitionen und Beschäftigung zu fördern. Deutschland hat auf diesem Gebiet seit 2008 nichts getan und weist deshalb im internationalen Vergleich mittlerweile eine der höchsten Steuerlasten für Unternehmen auf. Bei der Einkommensteuer ist es erforderlich, die Erwerbsanreize für die Zweitverdiener zu verbessern. Im System der Sozialtransfers herrscht ein irrationaler Wildwuchs, mit der Folge, dass mehr Erwerbstätigkeit im Niedrigeinkommensbereich teilweise finanziell bestraft wird. So wird verhindert, dass sich Menschen aus eigener Kraft aus der Abhängigkeit von staatlichen Hilfen befreien. Reformbedürftig sind auch die Kommunalfinanzen, deren Abhängigkeit von der Gewerbesteuer in der aktuellen Krise erneut Schaden angerichtet hat. Es wäre nicht schwer, diese Probleme zu lösen. Aber es geschieht nichts. 

Ob die erlahmenden Reformkräfte mit der langen Amtszeit von Angela Merkel zu tun haben oder nicht, darüber kann man nur spekulieren. Die nächste Bundesregierung hat jedenfalls die Chance und die Pflicht, diesen Reformstau mit neuem Elan aufzulösen. Sie kann sich dabei immerhin auf Staatsfinanzen stützen, die trotz aller Versäumnisse und künftiger Herausforderungen vergleichsweise solide sind.  


Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts


Erschienen unter dem Titel „Stabilitätspolitische Erfolge, Verfall der Reformbereitschaft“, Handelsblatt, 27. August 2021

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2021
ifo Standpunkt Nr. 228
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