Stellungnahme -

ifo Standpunkt 225: Europa im Wettbewerb mit China und den USA: Mehr strategische Autonomie, aber nicht mehr Autarkie!

Unter den drei großen Wirtschaftsräumen Europa, USA und China wächst der „Alte Kontinent“ seit geraumer Zeit am wenigsten dynamisch. Europas Gewicht in der Weltwirtschaft nimmt ab. Im Jahr 1989, dem Jahr als der Eiserne Vorhang fiel und die Teilung Europas in Ost und West sich aufzulösen begann, betrug der Anteil der heutigen EU-Staaten zuzüglich des Vereinigten Königreiches am globalen Bruttoinlandsprodukt bereinigt um Kaufkraftunterschiede noch 27,8%. Europa lag damit deutlich vor den USA mit 22,2%. China spielte mit einem Anteil von 4,1% als Wirtschaftsmacht noch kaum eine Rolle, trotz des dort bereits fortgeschrittenen Reformprozesses. Dreißig Jahre später, im Jahr 2019, hatte sich das Bild radikal verändert: Der Anteil der EU plus Vereinigtes Königreich an der globalen Wirtschaftsleistung betrug noch 16% und lag damit ungefähr gleichauf mit den USA (15%). China hatte mit einem Anteil von 19,2% die beiden anderen Blöcke bereits deutlich hinter sich gelassen.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Europa fällt weiter zurück

Die Coronakrise hat diese Gewichtsverschiebung beschleunigt. Es ist absehbar, dass die USA wegen ihres schnellen Impffortschritts und der großen Konjunkturprogramme bereits im Jahr 2021 das Vorkrisenniveau deutlich übertreffen werden. Die chinesische Wirtschaftsleistung wird sogar noch einmal um rund 10% höher sein als 2019. Die EU hingegen wird frühestens 2022 den Einbruch des Krisenjahres 2020 wettmachen. Europa fällt also weiter zurück.

Prinzipiell ist die stärkere wirtschaftliche Dynamik in China und den USA für die europäische Wirtschaft kein Nachteil. Gerade in der aktuellen Lage profitiert die Industrie in Europa, vor allem in Deutschland, von der starken Nachfrage aus diesen beiden Ländern. Dennoch wirft das abnehmende Gewicht Europas die Frage auf, ob und wie die europäischen Staaten ihre globalen wirtschaftlichen und politischen Interessen künftig noch wirksam vertreten können. In diesem Kontext wird viel über Abhängigkeiten Europas von seinen Handelspartnern gesprochen; gerade Deutschland wird vorgeworfen, durch die starke Abhängigkeit seiner Unternehmen von China politisch erpressbar zu sein, beispielsweise bei Menschenrechtsfragen. Man sieht es mit Sorge, wenn chinesische Investoren in Europa Firmen aufkaufen oder sogar Infrastruktureinrichtungen wie Häfen übernehmen. Abhängigkeiten von den USA, etwa in militärischen Fragen, werden weniger kritisch betrachtet. Die potenziell erheblichen negativen Konsequenzen solcher Abhängigkeiten sind aber während der Präsidentschaft von Donald Trump deutlich geworden.   

Wer ist abhängig von wem?

Vor diesem Hintergrund wird immer wieder gefordert, Europa solle seine strategische Autonomie steigern, also Abhängigkeiten reduzieren. Aber was bedeutet das? Bis heute fehlt es an einer sorgfältigen Analyse der bestehenden wirtschaftlichen Abhängigkeiten und der Frage, welche Konsequenzen daraus erwachsen. Das ist alles andere als trivial. In ökonomischen und vielen anderen Fragen sind Abhängigkeiten nur dann problematisch, wenn sie einseitig sind. Beim internationalen Handel ist a priori unklar, ob der Importeur vom Exporteur abhängig ist oder umgekehrt. Bei Gütern und Dienstleistungen mit hohen Fixkosten und hohen Margen ist die Abhängigkeit des Verkäufers vom Marktzugang größer als bei Gütern mit geringeren Margen. Importeure sind von den Lieferungen aus dem Ausland vor allem dann abhängig, wenn die Güter schwer aus anderen Quellen bezogen werden können und sie auch nicht verzichtbar sind.

Im Jahr 2020 importierte die EU (ohne Vereinigtes Königreich) Waren im Wert von 383 Mrd. Euro aus China – mehr als aus jedem anderen Land weltweit – und exportierte im Gegenzug Güter für 203 Mrd. Euro in dieses Land. Wer hier höhere Margen erzielt oder Importgüter leichter ersetzen kann, ist eine offene Frage. Aber allein das Volumen des Handels legt nahe, dass hier erhebliche gegenseitige Abhängigkeit besteht. Das bietet einen gewissen Schutz gegen aggressive Handelspolitiken. Das gilt auch für die USA. Als US-Präsident Donald Trump den Europäern mit Strafzöllen auf ihre Exportprodukte drohte, konnten die Europäer darauf verweisen, dass die USA zwar im Warenhandel ein Defizit aufwiesen, aber bei Dienstleistungen und Primäreinkommen – also beispielsweise Lizenzeinnahmen – einen etwa ebenso hohen Überschuss, mit sehr hohen Margen. Dadurch bestand auch eine hohe Abhängigkeit der US-Unternehmen vom europäischen Markt. Das dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass es nie zu einem eskalierenden Handelskrieg gekommen ist. Auch Donald Trump hat verstanden, dass er diesen Konflikt kaum gewinnen konnte.  

Abhängigkeiten können auch durch grenzüberschreitende Investitionen entstehen. Doch auch hier ist die Richtung der Abhängigkeit nicht einfach zu bestimmen. Wenn chinesische Investoren eine europäische Hafengesellschaft aufkaufen, folgt daraus nicht notwendigerweise eine Abhängigkeit der Europäer von China. Im Gegenteil: Die heimische Regierung kann Hafenanlagen vergleichsweise leicht unter ihre Kontrolle bringen oder sogar enteignen, wenn man der Auffassung ist, dass die Betreiber ihre Pflicht verletzen, diese wichtige Infrastruktur angemessen zu betreiben. Allerdings muss man sehen, dass die Direktinvestitionen europäischer Unternehmen in China noch immer weitaus größer sind als umgekehrt, auch wenn sie strengeren Regulierungen unterliegen als die chinesischen Investitionen in Europa. Komplexer ist die Lage, wenn technologische Abhängigkeiten bestehen. Das wird am Beispiel der Beteiligung chinesischer Unternehmen am Ausbau der Telekommunikations-Infrastruktur deutlich.

Protektionismus ist der falsche Weg für Europa

Kritisch wird es vor allem, wenn Abhängigkeiten und politische Einflussmöglichkeiten intransparent und schwer kontrollierbar sind. Grundsätzlich ist es richtig zu verlangen, dass die Europäische Union ihre strategische Autonomie stärkt und gefährliche Abhängigkeiten vermeidet. Das erfordert allerdings eine sorgfältige und umfassende Analyse der bestehenden Wirtschaftsbeziehungen und der damit verbundenen beidseitigen Abhängigkeiten. Nur auf dieser Basis können problematische und einseitige Abhängigkeiten abgebaut werden. Das kann allerdings erfordern, wirtschaftliche Beziehungen zu vertiefen, statt sie einzuschränken. Beispielsweise kann man die Gefahr, dass europäische Investoren in China benachteiligt werden, durch Förderung chinesischer Investitionen in Europa reduzieren, weil Gegenmaßnahmen in Europa dann größere Wirkung hätten. Die Forderung nach strategischer Autonomie sollte allerdings nicht darauf hinauslaufen, Autarkieforderungen und protektionistische Tendenzen zu befeuern. Das würde die strategische Autonomie nicht notwendigerweise stärken, wäre für Europa aber mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbunden, der wirtschaftliche Bedeutungsverlust würde sich beschleunigen.  


Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

 

Erschienen unter dem Titel „Europa im Wettbewerb mit China und den USA: Mehr strategische Autonomie, aber nicht mehr Autarkie!“, Audit Committee Quarterly II/2021, S. 6–7

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2021
ifo Standpunkt Nr. 225
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