Stellungnahme -

ifo Standpunkt Nr. 204: Populistische versus freiheitliche Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert

21. Mai 2019

ifo-Präsident Clemens Fuest wendet sich gegen falsche Antworten der Politik auf den Populismus. Er skizziert die vier Säulen, auf denen freiheitliche Wirtschaftspolitik basiert: Ein solides Fundament (Wettbewerb, offene Märkte, Privateigentum, flexible Preise und Löhne, Eigenverantwortung), effektive Regulierung, Offenheit und Diversität, sowie ein starker Sozialstaat.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Wichtige Grundlagen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stehen derzeit unter Beschuss: Der freie Welthandel, der Wettbewerb und die Marktwirtschaft, der Schutz des Privateigentums, die europäische Integration und der Pluralismus. Diejenigen, die dabei in der ersten Reihe stehen, heißen Donald Trump, Lega und 5 Sterne, Marine Le Pen; es sind einflussreiche Politiker in Polen und Ungarn darunter, aber auch deutsche Politiker.

Sie alle sind Vertreter einer Politik, die als populistisch bezeichnet wird. Der Begriff ‚Populismus‘ ist unscharf. Der Duden definiert Populismus als „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen … zu gewinnen“. Nun ist Demokratie die Herrschaft des Volkes, und dass sich da durchsetzt, was populär ist, darüber sollte man sich nicht beschweren. Trotzdem gibt es einen gefährlichen, pathologischen Populismus, den wir erkennen müssen. Er wird von Sozialwissenschaftlern wie folgt charakterisiert:

Populisten beschreiben die Gesellschaft als in zwei Gruppen gespalten. Auf der einen Seite steht das ‚Volk‘, auf der anderen die ‚Elite‘. Die Elite wird als korrupt dargestellt. Sie stiehlt dem Volk den Wohlstand und seine Identität. Populisten dagegen beanspruchen, die Interessen des Volkes zu vertreten. Donald Trump zum Beispiel hat in seiner Rede zum Amtsantritt Folgendes gesagt:

„Wir transferieren Macht weg von Washington DC, zurück zu Euch, dem Volk. Zu lange hat eine kleine Gruppe in der Hauptstadt unseres Landes die Vorteile der Macht genossen, während das Volk die Lasten getragen hat."

Was bedeutet Populismus in der Wirtschaftspolitik?

Es gab populistische Bewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert; damals ging es um Anliegen der Landbevölkerung, die in Teilen durchaus sinnvoll waren. Populistische Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts ist ganz anders. An sieben Eigenschaften kann man sie erkennen:

  1.  Sie behauptet, für Gruppen zu handeln, die ihren Status und Wohlstand bedroht sehen; Gruppen, die sich vom politischen Establishment verlassen fühlen.
  2. Ihre Agenda setzt auf kurzfristige Wohltaten, ohne die langfristigen Kosten zu berücksichtigen. Die Ausweitung der Staatsverschuldung wird zum Beispiel immer unterstützt, unabhängig von den Folgen.
  3. Sie entzieht sich der Abwägung von Vor- und Nachteilen verschiedener Politikoptionen. Zielkonflikte werden ignoriert, Checks und Balances werden abgelehnt, ebenso Beschränkungen nationaler Souveränität durch Freihandelsabkommen oder die EU.
  4. Sie konzentriert sich auf einzelne und emotionalisierte Themen wie Zuwanderung, Importkonkurrenz oder Gegensätze zwischen Arm und Reich.
  5.  Ausländer, Immigranten und der internationale Handel werden für ökonomische Probleme verantwortlich gemacht.
  6. Populisten bieten einfache Lösungen für komplexe Probleme. Abschottung durch Protektionismus ist ein Beispiel.
  7. Diese Lösungen sind Scheinlösungen; sie verschlimmern die Lage, statt sie zu verbessern.

Populistische Parteien finden Unterstützung, zum Beispiel dort, wo der Wohlstand der Mittelklasse verfällt, wo die  Folgen der globalen Finanzkrise und der  Eurokrise für die Menschen spürbar sind oder wo die Politik die Kontrolle über Migrationsströme zu verlieren scheint; dass diese Vorgänge das Vertrauen in die liberalen Demokratien und die sogenannten Eliten erschüttern, kann eigentlich niemanden überraschen. Hinzu kommt die Furcht vor Veränderungen: Die Digitalisierung, die zunehmende Globalisierung und der demografische Wandel erfordern Anpassungen und teilen die Bevölkerung in Gewinner und Verlierer. Populisten schüren damit verbundene Ängste.

Die populistischen Antworten auf diese Probleme machen aber alles nur noch schlimmer. In Italien hat die Lega- und 5-Sterne-Regierung höhere Staatsschulden angekündigt und Arbeitsmarktreformen zurückgenommen. Das hat nur zu steigenden Zinsen geführt. Das Land ist in eine Rezession gerutscht. Talente wandern ab, italienische Unternehmer investieren lieber im Ausland.

In einem Land wie den USA – einer ökonomischen Supermacht – dauert es länger, bis die Kosten populistischer Politik sichtbar werden. Aber schon heute bekommen viele Landwirte in den USA die Strafzölle zu spüren, die andere Länder neuerdings auf US-Agrarexporte erheben. Sie sind die Antwort auf Trumps Einfuhrzölle für europäische und chinesische Produkte. Ein größerer Schock wird wohl nach den Wahlen kommen, wenn die US-Regierung Maßnahmen gegen das viel zu hohe Budgetdefizit ergreifen muss, also Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen.

Was sind die richtigen Antworten auf Populismus?

Moderate politische Kräfte in Europa reagieren auf die populistische Bedrohung, indem sie versprechen, die Menschen von allen Widrigkeiten und Gefahren des Lebens abzuschirmen. Ich halte das für gefährlich. Ausgerechnet der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat folgende Formel geprägt: Wir brauchen ein Europa, das beschützt, „une Europe qui protège“. Das ist sicherlich gut gemeint. Aber das Bild, das hier vermittelt wird, ist nicht das richtige. Es ist das Bild eines defensiven Europa. Es ist ein Europa, das sich fürchtet. Ein Europa, das sich hinter Mauern zurückzieht, das nicht mehr an sich glaubt. Eine „Festung Europa“. Innerhalb der Festung herrschen nicht Freiheit, Märkte und Wettbewerb – stattdessen wird hart reguliert, der Mangel wird verwaltet.

Die französische und die deutsche Regierung wollen den Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt schwächen, um Großkonzerne, angebliche europäische Champions, zu schaffen. Diese sollen mit Unternehmen aus China und den USA konkurrieren. Tatsächlich würden diese privilegierten Unternehmen aber nur faul und ineffizient; die Ungleichheit in Europa würde zunehmen, das Wachstum sinken.

Andere fordern, in allen EU-Staaten nationale Mindestlöhne verpflichtend vorzuschreiben. Das ist ebenfalls der falsche Weg. Die EU kann zwar Mindestlöhne verordnen, aber nicht sicherstellen, dass es auch Arbeitsplätze zu diesen Löhnen gibt. Das wäre nur durch die entsprechende Produktivität zu gewährleisten.

Die europäische Politik kann und sollte die Menschen in Europa nicht von den Herausforderungen abschirmen, die wirtschaftlicher Wandel bringt, schon gar nicht durch Ausschaltung des Wettbewerbs nach innen und Abschottung nach außen.

Die Politik sollte stattdessen Bedingungen dafür schaffen, dass die Menschen in Europa diese Herausforderungen bewältigen. Die meisten können das aus eigener Kraft. Um das zu erreichen, brauchen wir Selbstvertrauen und Aufbruch, nicht Angst und Rückzug. Wir brauchen kein Europa, das nur beschützt. Wir brauchen ein Europa, das befähigt, ein Europa der Chancen. Diese Chancen zu nutzen, dafür ist dann jeder selbst verantwortlich. Deshalb sage ich: Die Antwort auf den Populismus ist nicht der Wohlfahrtsstaat, der alles regelt, sondern eine freiheitliche Wirtschaftspolitik. Freiheit bedeutet unweigerlich gewisse Risiken. Aber freiheitliche Politik nimmt Risiken und Unsicherheit nicht passiv hin.

Die vier Elemente freiheitlicher Wirtschaftspolitik

Aus meiner Sicht muss freiheitliche Wirtschaftspolitik vier Elemente haben:

  1.   Das Fundament: Wettbewerb, offene Märkte, Privateigentum, flexible Preise und Löhne, Eigenverantwortung. Ohne dieses Fundament gibt es keinen Wohlstand.
  2.  Effektive Regulierung:  Dazu gehören Wettbewerbspolitik, die Kartelle untersagt, eine Bankenregulierung, die verhindert, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, und effektiver Umwelt- und Klimaschutz.
  3. Offenheit und Diversität: Ein Europa der Chancen ist nach außen offen und dynamisch und im Inneren vielfältig. Es vertritt seine Interessen in der Welt dort wirksam, wo die Mitgliedstaaten das allein nicht können: in der Handelspolitik, der Migrationspolitik, der Verteidigungspolitik. Europa muss auch nach innen gezielt gemeinsam handeln: bei der Reform der Eurozone, beim Ausbau europäischer Infrastruktur und bei der inneren Sicherheit.
  4.  Starker Sozialstaat:  Er sollte befähigen statt zu entmündigen, denn Menschen können nur dann die Chancen einer freien Gesellschaft nutzen, wenn ihre materiellen Grundbedürfnisse und der Zugang zu Gesundheitsversorgung gesichert sind; wenn sie soziale Kontakte haben; wenn Bildung, Teilhabe und Aufstiegschancen gewährleistet sind. Ein soziales Netz sollte die auffangen, die Pech haben, arbeitslos oder krank werden und sich nicht aus eigener Kraft helfen können.

Freiheitliche Wirtschaftspolitik in diesem Sinne ist kein „laissez faire“, sondern das, was wir in Deutschland als „Soziale Marktwirtschaft“ kennen. Die Ausgestaltung dieser Sozialen Marktwirtschaft ist kompliziert. Das richtige Verhältnis zwischen Freiheit und Eigenverantwortung einerseits, sozialer Sicherung und Regulierung andererseits muss ständig neu ausverhandelt werden. Dabei ist es wichtig, Fakten zu berücksichtigen und der Komplexität ökonomischer Herausforderungen gerecht zu werden. Politische Konflikte dürfen nicht so weit eskalieren, dass Kompromisse unmöglich werden. Wenn in diesem Prozess populistische und radikale Strömungen die Oberhand gewinnen, sind Freiheit und Wohlstand gefährdet.

Populisten stellen oft die richtigen Fragen. Sie geben aber die falschen Antworten. Seriöse Politik muss die richtigen Antworten geben. Das ist nicht leicht, denn diese Antworten sind meistens kompliziert. Populisten versprechen außerdem das Blaue vom Himmel. Moderate Politiker müssen damit konkurrieren, aber ohne unerfüllbare Versprechungen, sondern mit realistischen Perspektiven. Emmanuel Macron kann hier als Vorbild dienen: Er hat beispielsweise auf Proteste von Beschäftigten gegen Entlassungen reagiert, indem er sich ein Bild von der Lage vor Ort gemacht hat, vor den Betroffenen aber ehrlich auf die Grenzen staatlichen Handelns hingewiesen hat. Er hat gesagt: Ich bin nicht der Weihnachtsmann. Das erfordert Courage. Man könnte dem entgegnen, dass die französische Bevölkerung ihrem Präsidenten diese Ehrlichkeit nicht gedankt hat, dass er seine Linie vielleicht nicht durchhalten kann. Sein Weg ist dennoch richtig: Mehr Anstrengung, um komplexe wirtschaftspolitische Probleme zu erklären, und mehr Mut, auf Grenzen staatlichen Handelns hinzuweisen, würde auch der Politik in Deutschland und anderen europäischen Ländern guttun.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Der Artikel basiert auf einem Vortrag anlässlich der Verleihung des Hanns Martin Schleyer-Preises in Stuttgart am 6. Mai 2019.