Stellungnahme -

ifo Standpunkt Nr. 192: Das Märchen von der Jahrhundertungleichheit – Die deutsche Ungleichheitsdebatte leidet unter selektiver Wahrnehmung

Wikipedia definiert selektive Wahrnehmung als „ein psychologisches Phänomen, bei dem nur bestimmte Aspekte der Umwelt wahrgenommen und andere ausgeblendet werden“. Besser kann man die aktuelle deutsche Debatte über Ungleichheit nicht beschreiben. Wahrgenommen und in den Medien verbreitet werden vor allem Fakten oder auch Halbwahrheiten, die zu beweisen scheinen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Andere Fakten, die zeigen, dass Ungleichheit zurückgeht, werden ausgeblendet, weil sie nicht in die einfache und gut verkäufliche Geschichte stets wachsender Unterschiede passen.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Jüngstes Beispiel ist die These, die Einkommensungleichheit in Deutschland sei heute so groß wie vor 100 Jahren. „Jahrhundertungleichheit in Deutschland“, so titelten viele Zeitungen, das sei die Botschaft des World Inequality Report. In der Tat zeigt der Bericht, dass der Anteil der oberen zehn Prozent am Gesamteinkommen im Jahr 1913 so hoch war wie heute. Wer daraus schließt, die Ungleichheit sei heute so hoch wie vor 100 Jahren, blendet aber zwei relevante Fakten aus. Erstens wird hier über Bruttoeinkommen berichtet. Letztlich kommt es aber auf die Nettoeinkommen an. Das Steuersystem verteilt heute deutlich mehr um als zu Zeiten des Kaiserreiches. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Deutschland auf zentraler Ebene keine Einkommensteuer, wie wir sie heute kennen. In den deutschen Ländern gab es rudimentäre Einkommensteuern, in Preußen etwa existierte eine lange Zeit eine Einkommensteuer mit einem Spitzensatz von vier Prozent. Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde auf zentraler Ebene eine Wehrabgabe zur Kriegsfinanzierung eingeführt. Heute liegt der Spitzensatz der Einkommensteuer in Deutschland bei über 47 Prozent. Deshalb ist der Anteil der oberen zehn Prozent am verfügbaren Einkommen, auf das es letztlich ankommt, deutlich geringer als 1913. Zweitens wird ausgeblendet, dass andere Ungleichheitsmaße zu anderen Ergebnissen führen. Der Inequality Report betont den Anteil der oberen ein Prozent am Gesamteinkommen. Seit 1913 ist dieser Anteil in Deutschland von 18 Prozent auf 13 Prozent gefallen. Nach diesem Indikator müssten die Schlagzeilen lauten, dass die Ungleichheit 1913 um 38 Prozent höher war als heute, unter Berücksichtigung von Steuern noch um deutlich mehr. Das allein zu berichten wäre ebenfalls selektive Wahrnehmung, aber die Botschaft wäre eine ganz andere.

Das lässt sich weiterführen. Die wichtigste Entwicklung in der weltweiten Einkommensverteilung ist zweifellos, dass der Anteil der Menschen, die in absoluter Armut leben, von über 40 Prozent Anfang der 1980er Jahre auf derzeit rund zehn Prozent gesunken ist. Aber nicht nur die Armut hat abgenommen, auch die globale Einkommensungleichheit. Gemessen am Gini-Index, dem gebräuchlichsten Ungleichheitsmaß, ist die globale Einkommensungleichheit in den letzten drei Jahrzehnten gesunken. Der World Inequality Report bestätigt, dass der Anteil der ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung am Gesamteinkommen seit 1980 nicht gesunken, sondern gestiegen ist. Schaut man nach Deutschland und konzentriert sich auf die letzten zehn Jahre, dann stellt sich heraus, dass sich die Einkommensungleichheit nicht verändert hat. Unter den G7-Staaten weist Deutschland die niedrigste Ungleichheit der verfügbaren Einkommen auf, wenn man sie am Gini-Koeffizienten misst.

Aus diesen Fakten zu schließen, dass die Ungleichheit allenthalben gesunken oder konstant geblieben sei, wäre erneut selektive Wahrnehmung. In Deutschland hat die Einkommensungleichheit in den letzten zehn Jahren nicht zugenommen, in dem Jahrzehnt davor, zwischen 1995 und 2005, aber schon. Das war vor allem Folge steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Entlohnung niedrig-qualifizierter Arbeit. In den USA ist die Einkommensungleichheit seit den 1980er Jahren dramatisch angestiegen. Auf globaler Ebene sinkt zwar die Armut, aber der Einkommensanteil der reichsten ein Prozent steigt ebenfalls.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem wirtschaftlicher Ungleichheit verlangt eine differenzierte Analyse, die darauf verzichtet, wichtige Fakten auszublenden, nur weil einfache und alarmistische Botschaften Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Die Ungleichheit entwickelt sich international sehr unterschiedlich. Deutschland ist ein Land mit gut ausgebautem Sozialstaat und vergleichsweise geringer Einkommensungleichheit. Aber auch bei uns wächst der Unterschied in der Entlohnung hoch- und niedrig-qualifizierter Arbeit, und das Elternhaus hat einen dominierenden Einfluss auf die Bildungschancen, so dass Wohlstandsunterschiede sich verfestigen. Was kann die Politik dagegen tun? Die Kombination aus Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und Transfers führt dazu, dass im mittleren Einkommensbereich Anreize, mehr zu leisten, eher gering sind. Das spricht dafür, Steuersenkungsspielräume für eine Beseitigung des Mittelstandsbauches im Steuertarif einzusetzen. Außerdem sollte vor allem in Kindergärten und Grundschulen die Förderung von Kindern aus bildungsfernen Milieus verbessert werden. Das würde mehr helfen als das Produzieren schriller Töne über angebliche Jahrhundertungleichheit.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Das Märchen von der Jahrhundertungleichheit“, Zeit Online, 2. Januar 2018.

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2018
ifo Standpunkt Nr. 192
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