Stellungnahme -

ifo Standpunkt Nr. 190: Nachhaltige Finanzpolitik verlangt restriktivere Verschuldungsregeln für die Eurozone

Eins der wichtigsten Themen der Koalitionsverhandlungen ist die Positionierung der nächsten Bundesregierung zur Reform der Europäischen Währungsunion. Zu den besonders umstrittenen Themen gehört die Zukunft der europäischen Verschuldungsregeln. Kritiker behaupten, die Regeln seien zu restriktiv und würden öffentliche Investitionen verhindern. Tatsächlich würde eine seriöse Anwendung etablierter Konzepte für die Sicherung nachhaltiger Finanzpolitik strengere, nicht weichere Schuldenregeln verlangen.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Was bedeutet Nachhaltigkeit bei den Staatsfinanzen? Hier gibt es zwei Ansätze. Erstens kann man fordern, dass der Stand der öffentlichen Verschuldung nicht schneller wächst als die Wirtschaftsleistung insgesamt, die Schuldenquote also stabil bleibt.

Zweitens kann man den Staat wie ein bilanzierendes Unternehmen betrachten und argumentieren, dass nichts gegen Staatsschulden spricht, wenn diesen Schulden öffentliches Vermögen gegenübersteht. Daraus folgt die Regel, Neuverschuldung in Höhe der öffentlichen Investitionen zuzulassen, allerdings nur in Höhe der Nettoinvestitionen. Der Ersatz von Abschreibungen muss aus laufenden Steuereinnahmen finanziert werden, sonst steigen die Schulden stärker als das staatliche Vermögen.

Bei der Gründung der Eurozone haben die Mitgliedstaaten sich für den ersten Ansatz entschieden. Die Staatsschuldenquote sollte 60 Prozent nicht überschreiten. Außerdem sollte der Staatshaushalt bei normaler Wirtschaftslage ausgeglichen sein. Auch bei schlechter Konjunktur sollte die laufende Neuverschuldung 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht überschreiten. In der öffentlichen Debatte wurde die Drei-Prozent-Grenze von Anfang an weniger als Höchstgrenze für Krisenzeiten betrachtet, sondern als Orientierungspunkt für das Defizit bei normaler Wirtschaftslage. Ökonomisch lässt sich das durchaus rechtfertigen. Bei einem permanenten Budgetdefizit von 3 Prozent ist es möglich, die Verschuldungsquote bei 60 Prozent zu halten, sofern das nominale Wirtschaftswachstum bei 5 Prozent liegt, sich also beispielsweise aus 3 Prozent realem Wachstum und 2 Prozent Inflation ergibt. In den neunziger Jahren lag das Nominalwachstum in der Eurozone bei knapp über 5 Prozent.

Mittlerweile haben sich die Bedingungen aber geändert. Erstens liegt die durchschnittliche Verschuldungsquote der Eurostaaten mittlerweile nicht mehr bei 60, sondern bei rund 90 Prozent. Zweitens hat das Wirtschaftswachstum nachgelassen. In den Jahren 2000 bis 2010 lag das Nominalwachstum der zwölf „frühen“ Euro-Mitgliedstaaten nicht mehr bei 5, sondern nur noch bei 3 Prozent, in den Jahren 2010 bis 2018 werden es voraussichtlich nur noch knapp über 2 Prozent sein.

Für die Verschuldungsregeln folgt daraus zweierlei: Erstens ist zu klären, ob eine Quote von 60 Prozent das Ziel bleiben soll. Dafür spricht, dass Länder, die Mitglied einer Währungsunion sind und deshalb keine eigenständige Geldpolitik haben, für Vertrauenskrisen anfälliger sind als Staaten mit eigner Zentralbank. Letztere können notfalls auf ihre eigene Zentralbank zurückgreifen, um sich zu verschulden. Zweitens erscheint es auf absehbare Zeit unrealistisch, zu einem durchschnittlichen Nominalwachstum von 5 Prozent zurückzukehren. Wenn es gut läuft, sind eher 3 Prozent zu erwarten. Wenn ein Land unter diesen Bedingungen ein dauerhaftes Budgetdefizit von 3 Prozent hat, wird seine Verschuldungsquote auf 100 Prozent des BIP ansteigen. Um die angestrebten 60 Prozent zu erreichen, darf das Defizit nur 1,8 Prozent betragen. Auch wenn es unpopulär ist: Wenn die Staaten der Eurozone die 60-Prozent-Grenze für den Schuldenstand nicht aufgeben wollen, müssen sie sich von der Vorstellung, 3 Prozent Budgetdefizit seien in Ordnung, verabschieden.

Für hoch verschuldete Länder wie Italien ist bei den jüngsten Reformen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vereinbart worden, dass sie mehr tun müssen, um ihre Schulden abzubauen: Sie sollen ihre Schuldenquote jedes Jahr um 5 Prozent des 60 Prozent überschießenden Betrags abbauen. Von Italien verlangt diese Regel derzeit einen ausgeglichenen Staatshaushalt. Bis zum Jahr 2030 könnte das Defizit schrittweise auf ein Prozent des BIP erhöht werden. Wenn Italien sich daran hält und ein Nominalwachstum von 3 Prozent erreicht – seit 2010 war das Wachstum dort weniger als ein Prozent – , würde seine Schuldenquote im Jahr 2030 bei knapp unter 100 Prozent des BIP liegen. Bis zum Ziel von 60 Prozent würde es noch Jahrzehnte dauern, aber die Richtung würde stimmen.

Kritiker weisen immer wieder darauf hin, dass die bestehenden Schuldenregeln nicht berücksichtigen, ob das geliehene Geld für Investitionen oder für Konsum verwendet wird. Dadurch würden öffentliche Investitionen verdrängt und das Wachstum geschädigt. Sie fordern deshalb, Europa solle auf das zweite Konzept nachhaltiger Finanzpolitik umsteigen, die investitionsbasierte Verschuldungsregel, die auch als „goldene Regel“ bezeichnet wird. Das Vermögen des Staates verändert sich jedes Jahr um die Investitionen abzüglich der Abschreibungen. Neuverschuldung ist nach diesem Konzept also in Höhe der Nettoinvestitionen zulässig. Was würde eine Umstellung auf diese so genannte „goldene Regel“ bedeuten? Italien hatte 2016 ein Budgetdefizit von 2,5 Prozent, gleichzeitig waren die öffentlichen Nettoinvestitionen negativ, sie lagen bei minus 0,5 Prozent. Eine investitionsbasierte Schuldenregel würde bedeuten, dass Italien die konsumtiven Staatsausgaben drakonisch kürzen oder Steuern erhöhen müsste, um insgesamt 3 Prozent des BIP. Im Gegenzug könnte man mehr öffentliche Investitionen tätigen und diese mit Schulden finanzieren. Hier ist das Potenzial allerdings begrenzt. Die öffentlichen Bruttoinvestitionen betrugen 2016 gerade 2,1 Prozent des BIP. Besonders krass ist die Situation in Portugal: Dort lagen die Nettoinvestitionen 2016 bei minus 1,4 Prozent, bei einem Defizit von 2 Prozent des BIP. Um die investitionsbasierte Schuldenregel einzuhalten, müsste Portugal seine konsumtiven Staatsausgaben also um 3,4 Prozent des BIP kürzen oder entsprechend Steuern erhöhen. Viele Kritiker der bestehenden Schuldenregeln erhoffen sich von der Umstellung auf das investitionsbasierte System letztlich mehr Spielräume für eine expansive Finanzpolitik. Tatsächlich würde das Gegenteil eintreten, es wären zunächst massive Sparprogramme zu bewältigen.

Angesichts der lauten Klagen über angebliche Austeritätspolitik in Europa erscheint die Forderung nach strikteren Verschuldungsgrenzen unzeitgemäß. Oft wird auch behauptet, wir müssten uns nur ein paar Jahre erlauben, die Staatsverschuldung stärker auszudehnen, dann würde das Wachstum so steigen, dass die Schulden sich selbst finanzieren. Japan hat das in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, das Ergebnis war leider eine gefährliche Kombination aus weiterhin schwachem Wachstum und wachsenden Schulden. Heute hat Japan eine Staatsschuldenquote von 240 Prozent des BIP erreicht. Das laufende Haushaltsdefizit betrug 2016 mehr als 4 Prozent des BIP, das Wachstum lag bei einem Prozent. Europa sollte dem nicht folgen.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Strengere Verschuldungsregeln für die Eurozone“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. November 2017, S. 17.

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2017
ifo Standpunkt Nr. 190
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