Stellungnahme -

ifo Standpunkt Nr. 185: Die Brexit Rechnung: Keine exakte Wissenschaft, aber hilfreiche politische Verhandlungsmasse

Zum Auftakt der Brexit-Verhandlungen hat EU-Chefunterhändler Michel Barnier den Briten eine gesalzene Rechnung präsentiert: 60 Milliarden Euro soll der EU-Austritt kosten. Premierministerin Theresa May war „not amused“, hat aber zugesagt, dass ihr Land seine Verpflichtungen erfüllen wird. Wie hoch sind diese Verpflichtungen? In den Europäischen Verträgen ist nicht geregelt, wie der Austritt eines Landes finanziell abzuwickeln ist. Derzeit werden zwei Ansätze diskutiert. Den einen kann man als Ehescheidungsansatz bezeichnen. Dabei wird ein Inventar der gemeinsamen Vermögensgegenstände und der Schulden erstellt, und jeder Partner erhält seinen Anteil am Nettovermögen. Im Fall der EU ist das Nettovermögen negativ. Mit der Brexit-Rechnung würden die Briten ihren Anteil an den Nettoschulden übernehmen. Der andere Ansatz zieht einen Vergleich zur Mitgliedschaft in einem Club. Solange man dabei ist, zahlt man Mitgliedsbeiträge, wenn man austritt, geht es nur um die Frage, wie lange nach Eingang der Kündigung weiter Beiträge zu zahlen sind. Das Vermögen des Clubs wird nicht aufgeteilt, es wird von den verbleibenden Clubmitgliedern weitergeführt.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Für den Club-Ansatz spricht, dass bei EU-Beitritten auch nicht gefragt wird, wie hoch das Vermögen der EU ist – die neuen Mitglieder fangen einfach an, Beiträge zu zahlen. Entsprechend könnten die Briten ihre Zahlungen an die EU zum Austrittsdatum einstellen, eine Brexit-Rechnung würde entfallen. Die EU-27 wird aber kaum akzeptieren, dass die Briten sich so günstig aus der Affäre ziehen. Sie kann dafür einige gute Argumente anführen. Zum einen ist die EU etwas anderes als ein Golf- oder Tennisclub. Wichtiger ist, dass die EU anders als die meisten Sportclubs ein negatives Vermögen hat und sich deshalb finanziell auf die Mitgliedstaaten stützt. Man kann außerdem auf den Fall Schottlands verweisen. London besteht darauf, dass Schottland im Fall seiner Unabhängigkeit einen Teil der Staatsschulden des Vereinigten Königreichs mitnehmen würde.

Die Brexit-Rechnung von Michel Barnier stützt sich auf den Ehescheidungs-Ansatz. Sind 60 Milliarden Euro angemessen? Die EU selbst veröffentlicht eine Bilanz, nach der Ende 2015 einem Vermögen von 154 Milliarden Euro Schulden von 226 Milliarden Euro gegenüberstanden. Zum EU-Vermögen gehören Grundstücke, Forderungen aus vergebenen Krediten und Bankguthaben, die Schulden beinhalten aufgenommene Kredite, aber auch Verpflichtungen zur Zahlung von Pensionen an EU-Beamte. Die Nettoschulden betragen demnach 72 Milliarden Euro. Großbritannien finanziert etwa zwölf Prozent der EU-Ausgaben, dieser Anteil an den Nettoschulden würde 8,6 Milliarden Euro ausmachen. Der Unterschied zu den geforderten 60 Milliarden Euro liegt vor allem an zwei Posten, die in der offiziellen EU-Bilanz nicht vorkommen. Zum einen hat die EU in den letzten Jahren in ihrem Budget deutlich höhere Ausgabenversprechungen gemacht, als Zahlungen geleistet worden sind. Die Differenz wird bis Anfang 2019 voraussichtlich auf knapp 250 Milliarden Euro anwachsen. Hinzu kommen Versprechen der Mitgliedstaaten für künftige Zahlungen im Rahmen der EU-Strukturpolitiken im Umfang von 150 Milliarden Euro. Die Europäische Kommission betrachtet beides als Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und möchte, dass Großbritannien seinen Anteil – insgesamt rund 48 Milliarden Euro – übernimmt. Damit nähert man sich den geforderten 60 Milliarden Euro.

Rechtlich und politisch sind diese Forderungen höchst umstritten. Nicht nur Großbritannien, sondern auch andere Nettozahler wie Deutschland, die Niederlande und Schweden bestreiten, dass die erwähnten Differenzen zwischen Ausgabenversprechen und erfolgten Zahlungen im EU-Haushalt wirklich Verbindlichkeiten sind. Sie wollen, dass der Betrag durch Ausgabenkürzungen abgebaut wird.

All dies verdeutlicht, dass die Brexit-Rechnung keineswegs rechtlich eindeutig bestimmbar ist. Das muss kein Nachteil sein – die Zahlungen stellen eine politische Verhandlungsmasse dar, die Einigung auf anderen Gebieten erleichtern kann. Es wäre möglich, den wirtschaftlichen Schaden des Brexits durch längere Übergangsfristen und ein umfassendes Freihandelsabkommen für Güter und Dienstleistungen zu minimieren. Das Problem besteht darin, dass der Brexit für die EU-Seite einen Gesichtsverlust bedeutet. Deshalb wollen viele die Wirtschaftsbeziehungen mit Großbritannien einschränken, selbst wenn das auch die EU wirtschaftlich schädigt. Eine Kompromisslinie könnte darin liegen, dass Großbritannien eine hohe Brexit-Rechnung akzeptiert und die EU im Gegenzug dem zügigen Abschluss eines Freihandelsabkommens zustimmt.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel „Die Rechnung für den Abschied“, Handelsblatt, 6. April 2017, S. 48.

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2017
ifo Standpunkt Nr. 185
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