Gastbeitrag

Folgen des Verfassungsurteils: Investitionen schützen

Die Politik in Deutschland hat die Verantwortung, zu verhindern, dass die aktuellen Finanzierungsprobleme langfristige Schäden anrichten, fordern Clemens Fuest, Michael Hüther und Jens Südekum. Deutschland leidet nicht unter einem ökonomischen Schuldenproblem in dem Sinne, dass die Kapitalmärkte dem Land die ursprünglich geplanten Kredite nicht zu Verfügung stellen. Vielmehr muss es seinen Umgang mit dem Verfassungsgerichtsurteil finden und rechtssichere Haushalte aufstellen. Doch dies darf nicht auf Kosten öffentlicher und privater Investitionen geschehen. Ansonsten gefährdet Deutschland seine Zukunft und damit letztlich auch seine Schuldentragfähigkeit.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Einhaltung der Schuldenbremse hat für die deutsche Finanzpolitik weitreichende Folgen. Ein großer Teil der bislang vorgesehenen Verschuldung im Klima- und Transformationsfonds (KTF) für Ausgaben im Bereich der Dekarbonisierung hat keine Rechtsgrundlage mehr. Auch andere Sondervermögen wie der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) sind betroffen. Die Folgen für das Haushaltsjahr 2023 wurden aufgefangen, indem eine Haushaltsnotlage erklärt wurde. In der Planung der Bundeshaushalte für 2024 und 2025 bestehen jedoch erhebliche Lücken von jeweils mindestens 30 Milliarden Euro, bei denen trotz erster Beschlüsse über Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen unklar ist, wie sie geschlossen werden. Dieser Schock für die öffentlichen Finanzen trifft Deutschland in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Der russische Angriff auf die Ukraine hat das Energieangebot in Europa verknappt und verdeutlicht, dass Deutschland mehr Ressourcen aufwenden muss, um sich zu verteidigen. Geopolitische Spannungen mit China treffen die vom Außenhandel besonders stark abhängige Wirtschaft mehr als andere. Sowohl die privaten als auch die öffentlichen Investitionen entwickeln sich schwach, obwohl Herausforderungen wie die Digitalisierung der Wirtschaft, der Niedergang der schulischen Leistungen, eine teils marode öffentliche Infrastruktur und die Dekarbonisierung eine deutliche Steigerung der investiven öffentlichen Ausgaben erfordern.

In der Debatte über die Frage, ob das Urteil des Verfassungsgerichts eine Reform der Schuldenbremse nahelegt, sind die Meinungen geteilt. Das gilt auch für die Frage, wie genau staatliche Ausgabenprogramme zur Bewältigung der genannten Herausforderungen zu gestalten sind. Weitreichender Konsens besteht allerdings, dass ein Stopfen der Haushaltslöcher durch eine Kürzung öffentlicher Investitionen oder Steuererhöhungen zulasten privater Investitionen erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten würde. Das wirft die Frage auf, welche Optionen die Finanzpolitik hat, auf das Urteil zu reagieren, ohne die dringend benötigten Investitionen zu beeinträchtigen.

Eine Option besteht darin, die nötigen Kürzungen auf konsumtive Staatsausgaben oder entbehrliche Subventionen zu beschränken. Beispielsweise wird immer wieder gefordert, den Zuschuss zur Rentenversicherung zu kürzen. Das würde allerdings eine Rentenreform mit Leistungseinschränkungen voraussetzen. Doch selbst wenn man diese Forderung für berechtigt hält, ihre Umsetzung ist kurzfristig nicht realistisch. In der Vergangenheit wurden oft jahrelang arbeitende Kommissionen gebraucht, um derartige Reformen zu ermöglichen. Ähnlich ist es bei Subventionen. Sie abzubauen ist in vielen Fällen ebenfalls gut zu begründen, aber die aktuellen Turbulenzen um Kürzungen im Agrarbereich zeigen, dass die Widerstände groß sind. Übergangsfristen zur Anpassung seitens der Betroffenen wären allemal geboten.

Prinzipiell wären auch Steuererhöhungen jenseits der Kürzung von Subventionen denkbar, aber das könnte private Investitionen beeinträchtigen. Denn die volkswirtschaftliche Steuerquote ist historisch hoch, die Besteuerung der Unternehmen im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig und die marginale Abgabenbelastung für viele Beschäftigte - wie die OECD immer wieder testiert - extrem unattraktiv.

So ist die Gefahr groß, dass am Ende Ausgaben auf der Strecke bleiben, die keine starke Lobby haben und kurzfristig flexibel sind: die öffentlichen Investitionen und die Programme zur Förderung privater Investitionen. Diese Entwicklung zeichnet sich schon ab, denn als erste Reaktion auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil wurde der Wirtschaftsplan des KTF um 45 Milliarden Euro bis 2027 gekürzt. Im Einzelfall mögen auch einige dieser Streichungen begründbar sein. Öffentliche Ausgaben sollten stets einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Aber es wäre die falsche Antwort auf das Urteil, nun vorrangig im investiven Bereich zu kürzen, bloß weil die kurzfristigen politischen Widerstände hier geringer erscheinen. Die Herausforderungen der Transformation zur Klimaneutralität sind dafür viel zu groß, ebenso die Lasten infolge der Unterlassungen zur Instandhaltung der Infrastruktur.

Eine grundsätzlich andere Option besteht darin, die erforderliche Investitionen mit Krediten zu finanzieren, die im Rahmen eines neuen, in der Verfassung abgesicherten Sondervermögens aufgenommen werden, nach dem Vorbild des Sondervermögens für die Bundeswehr. Der Vorteil dieser Option besteht darin, dass man so mehrjährige Investitionsprogramme transparent, nachvollziehbar und rechtssicher gestalten könnte; gerade das erweist sich im Lichte der Verfassungsgerichtsurteils als besonders schwierig, weil es die Haushaltsprinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit sehr stark betont. Für ein neues, im Grundgesetz verankertes Sondervermögen ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Die Ampelkoalition müsste also mit der Union gemeinsam handeln. Eine solche überparteiliche Lösung hätte den Vorteil, privaten Investoren mehr Sicherheit zu geben, dass künftige Bundesregierungen mit potentiell anderen Parteikonstellationen die Programme weiterführen würden. Die Verstetigung und die Verlässlichkeit investiver Ausgabenprogramme sind wichtig dafür, private Investoren zu gewinnen, sich am Standort Deutschland zu engagieren.

Ein Risiko bei der Finanzierung öffentlicher Investitionen durch Verschuldung in Sondervermögen liegt darin, dass Investitionen aus dem Kernhaushalt in das Sondervermögen verlagert werden, um im Kernhaushalt mehr Raum für konsumtive Ausgaben zu schaffen. Das zu verhindern könnte im Rahmen der Verhandlungen über das Sondervermögen gelingen. Ob die Unionsparteien im aktuellen politischen Klima allerdings bereit wären, sich an der Gestaltung eines solchen Sondervermögens zu beteiligen, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin würde es wegen seiner langjährigen Wirkung möglicherweise auch der Union die Arbeit erleichtern, wenn sie an künftigen Bundesregierungen wieder beteiligt wäre.

Eine weitere Option besteht darin, die Schuldenbremse selbst zu reformieren. Beispielsweise könnte man Neuverschuldung in Höhe der öffentlichen Nettoinvestitionen zulassen. Auch dafür wäre allerdings eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Derzeit besteht schon innerhalb der Ampelkoalition kein Konsens darüber, ob eine solche Neufassung der Schuldenbremse sinnvoll ist, weil die FDP sie rundheraus ablehnt. Es ist nicht anzunehmen, dass es innerhalb dieser Legislaturperiode möglich wäre, zu einer solchen Reform zu kommen.

Als letzte Option des Rückgriffs auf Kreditfinanzierung schließlich besteht die Möglichkeit, zumindest für 2024 erneut eine Haushaltsnotlage zu erklären. Eine derartige Erklärung müsste sich auf die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine beziehen. Ausgaben für die ukrainischen Flüchtlinge, die militärische Unterstützung der Ukraine und Lasten der Energieverknappung infolge des Konflikts mit Russland könnten dem zugeordnet werden. Hierzu würde die Parlamentsmehrheit der Ampelkoalition reichen. So könnte verhindert werden, dass im Jahr 2024 investive Ausgabenprogramme entfallen. Nachteilig wäre allerdings, dass damit nur Ausgaben im Jahr 2024 finanziert werden könnten. Die wichtige Verstetigung der investiven Ausgaben würde damit nicht erreicht. Außerdem würden die Finanzierungsspielräume in den kommenden Jahren weiter sinken, denn durch die Notlage bedingten Kredite müssen in einem angemessenen Zeitraum danach wieder getilgt werden. Diese Nachteile im Vergleich zu einem Sondervermögen sollten auch für die Opposition Anlass sein, darüber nachzudenken, ob sie die Ampelkoalition zwingen will, die Erklärung einer Haushaltsnotlage als Ausweg zu wählen. Denn wenn sie das Ziel erreicht, von 2025 an wieder zu regieren, würde diese Tilgungsverpflichtung ihre Handlungsspielräume erheblich eingrenzen.

Welchen Weg Regierung und Opposition in den kommenden Monaten auch immer einschlagen mögen: Die Politik in Deutschland hat die Verantwortung, zu verhindern, dass die aktuellen Finanzierungsprobleme langfristige Schäden anrichten. Deutschland leidet ja nicht unter einem ökonomischen Schuldenproblem in dem Sinne, dass die Kapitalmärkte dem Land die ursprünglich geplanten Kredite nicht zu Verfügung stellen. Vielmehr muss es seinen Umgang mit dem Verfassungsgerichtsurteil finden und rechtssichere Haushalte aufstellen. Doch dies darf nicht auf Kosten öffentlicher und privater Investitionen geschehen. Ansonsten gefährdet Deutschland seine Zukunft und damit letztlich auch seine Schuldentragfähigkeit.

Clemens Fuest ist Präsident des Ifo-Instituts in München.

Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Jens Südekum ist Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre am Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heine-Universität.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

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