Gastbeitrag

Wo ist die Energiestrategie gegenüber Russland?

Clemens Fuest, Axel Ockenfels, Achim Wambach und Georg Zachmann beklagen eine fehlende Energiestrategie der EU gegenüber Russland und erklären, warum eine solche Strategie für die strategische Handlungsfähigkeit der EU so wichtig wäre und wie sie aussehen könnte.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Russland setzt seine Energielieferungen konsequent und mit großem strategischem Kalkül ein, um Europa zu schwächen und zu spalten. Ein solches Kalkül findet sich nicht in Europas Antwort auf diesen ökonomischen Krieg. Die Strategie der EU besteht darin, baldmöglichst ein Komplettembargo gegen Öl, Strom, Gas und Kohle aus Russland durchzusetzen. Es ist, als spielte Europa Schach mit bereits festgelegten Zügen, unfähig, auf Russlands Vorgehen zu reagieren. Zugleich erleichtert dieses Verhalten Putin, den Preis für Gas und Öl in ungeahnte Höhen zu treiben, dadurch sehr hohe Einnahmen mit Energieverkäufen nach Europa zu erzielen und damit gleichzeitig die EU-Staaten zu spalten. Auf der anderen Seite warten die Europäer nervös darauf, wann und wie Putin als Nächstes agieren wird, wie das Kaninchen vor der Schlange. So gelingt es Russland, über gezielt gegen einzelne Akteure eingesetzte Gaslieferunterbrechungen einen hohen Druck aufzubauen, der das politische Handeln und die Wirtschaft Europas massiv beeinflusst und den europäischen Zusammenhalt untergräbt.

Europa könnte seine ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen deutlich besser durchsetzen, wenn es die Modalitäten des Energieimports als außenpolitisches Instrument strategisch nutzen würde. Eine europäische Strategie könnte beispielsweise sein, von Russland zu fordern, dass es mindestens die Hälfte der vor dem Krieg vereinbarten Gasvolumen zum Marktpreis in die Energiebörsen verkaufen muss. Wenn es weniger liefert, bekommt es nicht (wie derzeit) mehr Geld, sondern muss im Gegenteil empfindliche Einnahmeeinbußen hinnehmen. Die Lieferung der geforderten Menge würde die politischen und wirtschaftlichen Risiken in Europa reduzieren und die Marktpreise auf ein akzeptables Niveau sinken lassen. Der Hebel zur Durchsetzung der Forderung wären dabei sowohl die kurzfristigen Einnahmeeinbußen als auch die Drohung mit einem langfristigen Abbruch aller leitungsgebundenen Energiehandelsbeziehungen zwischen der EU und Russland.

Putin könnte das genannte Gasimportangebot der Europäer ablehnen und alle Energielieferungen nach Europa sofort einstellen. Dann müsste er allerdings nicht nur kurzfristig auf Einnahmen verzichten, sondern würde mit Europa seinen lukrativsten Energiemarkt auch langfristig verlieren und sich in eine sehr unvorteilhafte wirtschaftliche Abhängigkeit insbesondere von China begeben. Die damit verbundenen hohen ökonomischen Kosten und politischen Risiken hat Putin bisher vermieden. Sollte er auf der anderen Seite vorhaben, die Energielieferungen zum Winter hin zu stoppen, würde eine aktive europäische Energiestrategie die Situation nicht verschlechtern.

Aktive Strategien erfordern freilich, dass die aktuelle Politik, die letztlich ohne Bedingungen alle Energieimporte aus Russland einstellen will, aufgegeben werden müsste. Stattdessen wird das bisher anvisierte Komplettembargo als glaubwürdiges Drohpotential eingesetzt, um ein besseres Ergebnis durchzusetzen als das Resultat der bisherigen Politik: die Rekordeinnahmen Putins aus europäischen Energieverkäufen und die Umleitungen heutiger und zukünftiger russischer Rohstoffe nach China, Indien und anderen Regionen, und das alles auf Kosten Europas.

Der angestrebte Einfuhrstopp russischer Energie ist die auf den ersten Blick verständliche Gegenreaktion zur folgenschweren Energieabhängigkeit von Russland. Aber mit einem unbedingten Einfuhrstopp wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das Ziel der Unabhängigkeit und Nichterpressbarkeit von Russland ist auch bei langfristigem Bezug russischer Energie erreichbar - nämlich dann, wenn der Energiehandel mit Russland Leitplanken unterliegt, die Energiesicherheit garantieren, und wenn gleichzeitig LNG-Kapazitäten und anderer Versorgungskanäle genügend ausgebaut werden. Unabhängigkeit und Nichterpressbarkeit erfordern Bezugsalternativen, nicht Autonomie durch Handelsstopp. Die Option, die Sanktionen teilweise wieder zurückzufahren, kann sich in zukünftigen Verhandlungen mit Russland als hilfreich oder gar notwendig erweisen.

Zuweilen wird gesagt, dass es angesichts des russischen Angriffskrieges moralisch verwerflich sei, mit der aktuellen russischen Regierung jemals wieder Handel zu treiben. Doch die moralische Bewertung sollte nicht vergessen, dass die Politik des schnellstmöglichen und dann dauerhaften Komplettembargos das wichtigste Ziel im Kontext des Krieges verfehlt, die aktuellen Energieeinnahmen Putins zu reduzieren. Die sofortige Einstellung der Energieimporte ist eine mögliche Alternative, die zumindest die europäischen Zahlungen an Russland effektiv reduzieren würde. Eine strategische Handelspolitik, die auch künftig die Möglichkeit von Energieimporten in reduzierter Menge offenhält, hat jedoch Vorteile. Sie führt zu sinkenden Einnahmen Russlands und beinhaltet zumindest die Chance, dass Europa auch mittelfristig russisches Gas importieren kann und dadurch ein gewisses Druckpotential gegenüber Russland behält.

Man kann angesichts der großen Unsicherheiten unterschiedlicher Meinung sein, was die richtige Energiestrategie ist. Das Problem ist aber nicht, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Das Problem ist, dass die EU-Mitgliedstaaten zwar gemeinsam mehrere Sanktionspakete gegenüber Russland beschlossen haben, sich aber gerade im Energiesektor eher unkoordiniert auf nationale und sektorspezifische Abwägungen fokussieren. Dadurch wird die strategische Handlungsfähigkeit der EU eingeschränkt. Europas Abwarten und das Fehlen einer erkennbaren Strategie bei der Beschaffung und Einsparung von Gas ist ein Spiegelbild der mangelnden europäischen Handlungsfähigkeit. Putins Strategie ist eine Reaktion der daraus resultierenden Verwundbarkeiten. Europa sollte das Heft des Handelns wieder in die eigene Hand nehmen. Das setzt voraus, dass die Europäer bereit sind, im Energiesektor nationale Interessen hintanzustellen und gemeinsam zu handeln.

 

Clemens Fuest ist Präsident des Ifo-Instituts in München.

Axel Ockenfels ist Direktor des Kölner Laboratoriums für Wirtschaftsforschung.

Achim Wambach ist Präsident des ZEW-Instituts in Mannheim.

Georg Zachmann ist Energiefachmann des Bruegel-Instituts.

Kontakt
Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

Präsident
Tel
+49(0)89/9224-1430
Mail