Gastbeitrag

Ein Falke als Finanzminister

Clemens Fuest und Harold James erklären, auf welche komplexen Herausforderungen der neue deutsche Finanzminister trifft und warum eine kritische Fiskalpolitik jetzt wichtig ist.


Quelle:
Zeit Online
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Clemens Fuest ist Präsident des Münchner ifo-Instituts und Professor an der Universität München. Er hat zuvor unter anderem an den Universitäten von Mannheim und Oxford gelehrt. Fuest ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium.

Harold James ist Professor für Geschichte an der Universität Princeton. Der gebürtige Brite hat in Cambridge studiert und gilt als einer der führenden Experten für europäische Wirtschaftsgeschichte.

Es ist nicht überraschend, dass die deutsche Politik international auf hohes Interesse stößt. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft der EU, und das Land hat die Covid-Krise mit einem gewissen Erfolg gemeistert. Vor allem aber fällt auf, dass die deutsche Politik von Mäßigung geprägt ist. Deutschland hat eine Wahl abgehalten, bei der moderate Parteien eine überwältigende Mehrheit erhielten. Populisten von rechts und links konnten allenfalls in den neuen Bundesländern punkten, sonst spielten sie keine große Rolle.

Für eine Welt, die von den polarisierenden US-Wahlen 2020 gezeichnet ist, für ein Großbritannien, das sich zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn entscheiden musste, erscheint die Stabilität Deutschlands einzigartig – vielleicht sogar merkwürdig oder geheimnisvoll. Daher ist es für Außenstehende verlockend, zu vermuten, dass es einen Fehler geben muss, einen Wurm, der am Herzen des deutschen Verfassungsapfels nagt. 

Das scheint Joseph Stiglitz und Adam Tooze (ZEIT Nr. 44/21) motiviert zu haben, mit einem forschen persönlichen Angriff in die Koalitionsverhandlungen einzugreifen. Sie haben identifiziert, was sie für Gift im deutschen politischen System halten. Ein Mann, Christian Lindner, so die Botschaft aus New York, sei gefährlich. Ungemach drohe, wenn er Finanzminister werde, denn seine fiskalpolitische Agenda sei "vorsintflutlich". Erstaunlicherweise traut man ihm schon die Leitung eines Digitalministeriums zu. Die Botschaft scheint zu sein: Lasst den kleinen bösen Jungen mit Computern spielen, aber gebt ihm bloß kein Geld. Stattdessen brauche das Finanzministerium "eine fantasievolle Führung". 

Worin besteht diese fantasievolle Führung? Stiglitz und Tooze weisen auf zwei Punkte hin: auf den internationalen Einfluss Deutschlands in einer zunehmend unsicheren und spannungsgeladenen Welt und auf Haushaltsregeln und fiskalische Orthodoxie. Die beiden Lindner-Kritiker skizzieren ein Szenario, in dem ein weniger restriktiver deutscher Finanzminister die Weltpolitik verändern würde, insbesondere die Debatten in der Weltbank oder im Internationalen Währungsfonds (IWF). Er wäre auf Augenhöhe mit der US-Administration, die endlich zufrieden wäre mit der deutschen Finanzpolitik. Diese Spekulation überschätzt in grotesker Weise das Gewicht Deutschlands in der Welt. Wenn Deutschland effektiv sein soll, kann es nur gemeinsam mit den europäischen Partnern wirken, beispielsweise durch eine einheitliche europäische Vertretung in der Weltbank und beim IWF. Das ist bislang aber nicht an Deutschland gescheitert.

Kritik an der deutschen Finanzpolitik setzt oft an der Verschuldungskrise in der Euro-Zone an. Viele amerikanische Denker sahen darin eine Bestätigung ihrer früheren Skepsis gegenüber der Währungsunion. Stiglitz war hier eine prominente Stimme. "Das Problem Europas ist der Euro", klagte er. Der sei ein fataler Fehler gewesen, mit der von Deutschland unterstützten Sparpolitik könne die Währungsunion keinen Bestand haben. Eine kolossale Fehlinterpretation – tatsächlich hat die Wirtschaft im Euro-Raum sich erholt. 

In ihrem Beitrag hätten er und Tooze die Etappen nachzeichnen müssen, über die Europa sich nach 2012 einer Lösung näherte, mit Reformen wie der Bankenunion und einer in vielen Ländern erfolgreichen Politik des Rettungsfonds ESM. Stattdessen scheinen sie zu glauben, dass die Rettung erst mit dem Amtsantritt von Scholz im Bundesfinanzministerium 2018 kam. Sie unterschätzen das Ausmaß, in dem Scholz auf dem Erbe seines Vorgängers Wolfgang Schäuble aufbaute, den sie verteufeln. Auch Scholz bestand darauf, dass die deutsche Finanzpolitik Spielräume schuf für eine unvorhergesehene Rezession, wie sie Covid 2020 brachte. Diese Spielräume zu nutzen war parteiübergreifender Konsens.

Es trifft zu, dass die Euro-Zone Reformen braucht. Auch die Covid-Krise ist noch nicht überstanden. Die Probleme der Umweltzerstörung kommen hinzu. Derzeit wird aber zu viel von einem neuen Konsens für die Wirtschaftspolitik geredet, der den diskreditierten "Washingtoner Konsens" ersetzen soll. Einige haben ihn nach dem wenig inspirierenden G7-Gipfel im Juni 2021 als "Cornwall-Konsens" bezeichnet. Derartige Phrasen über einen angeblich grundlegenden Wandel des wirtschaftspolitischen Denkens stehen wirklichem Fortschritt im Wege. 

Zu diesen Phrasen gehört die Forderung nach einer massiven Ausdehnung der Staatsausgaben. Überzeugende Argumente dafür fehlen, und sie wird durch die erfolgreiche Impfstoffentwicklung in keiner Weise untermauert. Auch die aktuelle Politik der US-Regierung ist kein Vorbild – dort kann man eher lernen, was man nicht tun sollte. Dass Joe Biden ein vernünftiges Gesetz über Infrastruktur-Ausgaben an ein aufgeblähtes Programm sonstiger Ausgaben in Höhe von über 3,5 Billionen Dollar knüpfte, war ein Fehler.

Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage fiskalisch zu stützen kann sinnvoll sein, wenn Produktionskapazitäten brachliegen. Derzeit liegen die Probleme aber woanders. Während der Covid-Krise konnten ganze Sektoren wegen der Infektionsgefahr nicht arbeiten. Häfen wurden geschlossen, Schiffe an den falschen Orten untergebracht. Die Nachfrage nach Produkten wie elektronischen Chips stieg durch den Digitalisierungsschub sprunghaft an. Konjunkturpakete waren teils auf die Überbrückung von Schließungsphasen ausgerichtet, teils befeuerten sie aber auch die ohnehin starke Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern, oft über den Online-Handel; das verstärkte die asymmetrische Wirkung der Krise. Derzeit hemmen Versorgungsengpässe bei Zwischengütern das Wachstum. Auch hier brauchen wir keine Nachfragestützung, sondern eine gezielte Reaktion auf die Engpässe, die primär von der Privatwirtschaft ausgehen und deren Behebung zwangsläufig einige Zeit in Anspruch nehmen wird. 

Die gleiche Argumentation gilt für die Dekarbonisierung. Hier geht es vor allem darum, die CO₂-Preise so zu gestalten, dass die Emissionen sinken. Für viele Unternehmen und private Haushalte und Unternehmen ist das mit hohen Kosten verbunden, andere profitieren eher. Deshalb sind Ausgleichsmaßnahmen erforderlich. Aber die müssen gezielt sein, nicht flächendeckend. Die neue Energieversorgung erfordert eine passende Infrastruktur. Diese Investitionen müssen intelligent organisiert sein. Oft erfordern sie private, nicht öffentliche Ausgaben. Eine Finanzpolitik, die suggeriert, es gehe nur darum, Restriktionen für einen schuldenfinanzierten Staatsausgabenboom zu beseitigen, wird bloß dazu führen, dass knappe Kapazitäten falsch eingesetzt werden.

Deshalb sind angemessene fiskalpolitische Institutionen für die Euro-Zone von zentraler Bedeutung. Die Maastricht-Regeln sind in der Tat reformbedürftig. Gebraucht werden aber nicht pauschal mehr Verschuldungsspielräume. Gebraucht wird eine Balance zwischen fiskalischer Flexibilität und Solidarität einerseits und Disziplin sowie harten Budgetrestriktionen andererseits. Dazu gehören Versicherungsmechanismen, um große wirtschaftliche Schocks wie die Covid-Krise abzufedern, aber auch eine Unterlegung großer Portfolios inländischer Staatsschulden der Banken mit mehr Eigenkapital. Die Regeln müssen berücksichtigen, dass die Euro-Zone eine Währungsunion fiskalisch souveräner Mitgliedsstaaten ist. Wenn Ausgaben einzelner Länder von den Steuerzahlern anderer Länder bezahlt werden müssen, die diese Ausgaben nicht beeinflussen konnten, funktioniert diese Währungsunion nicht. Die alten Lehren, die nach jeder Krise wiederholt werden, sind mehr als konservative Klischees. Sie sind notwendige Realitäts-Checks.

Der neue deutsche Finanzminister oder die Finanzministerin – wer auch immer er oder sie sein mag – sollte diese Komplexität verstehen. In einer Welt, in der die politische Unterstützung für laxere Fiskalregeln dominiert, kann ein kritischer fiskalpolitischer Falke als deutscher Finanzminister eine nützliche, ausgleichende Rolle spielen. Die Welt, nicht nur Deutschland, muss bei den Staatsaufgaben die richtigen Prioritäten setzen, statt sie nur immer weiter auszudehnen.