Gastbeitrag

Klimaschutz ohne Kompromisse

Christoph M. Schmidt, Marcel Fratzscher, Clemens Fuest, Isabelle Méjean, Nicola Fuchs-Schündeln, Christian Gollier, Philippe Martin, Xavier Ragot, Katheline Schubert, Beatrice Weder di Mauro.

Die EU prescht mit ambitionierten Klimazielen vor. Die nötigen Maßnahmen werden teuer. Doch daran führt kein Weg vorbei, mahnt der Deutsch-Französische Rat der Wirtschaftsexperten. Im Dezember 2019 hat die EU-Kommission ihre neue wirtschaftspolitische Strategie, den "Europäischen Green Deal", zu ihrer wichtigsten Aufgabe erklärt. Bis zum Jahr 2050 soll Europa klimaneutral werden.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach in diesem Zusammenhang vom europäischen "Man on the Moon Moment". Auf diesem Weg zum Mond hat sich die EU verpflichtet, ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken - eine deutliche Verschärfung im Vergleich zur bisherigen Zielmarke von 40 Prozent. Damit unterstreicht die EU ihren Führungsanspruch beim globalen Klimaschutz, auch wenn sie dabei mit dem neuen US-Präsidenten, dessen "Biden Plan" ebenfalls Klimaneutralität bis 2050 anstrebt, offenbar einen wichtigen Mitstreiter gewonnen hat. Allerdings kann die EU, ebenso wie die USA, ihrem Anspruch nur gerecht werden, wenn es ihr gelingt, eine wirksame Klimapolitik und fortgesetztes Wohlstandswachstum in Einklang zu bringen.

Nationale Lösungen sind teurer

Der "Green Deal" umfasst ein breites Spektrum an Maßnahmen zur Emissionsreduzierung, insbesondere ist eine umfassende CO2-Bepreisung geplant. Dazu kündigte die EU-Kommission an, den EU-Emissionshandel auf alle relevanten Bereiche ausweiten zu wollen. Derzeit umfasst er nur die Sektoren Industrie und Energie. Überall sonst besteht statt europaweiter Vorgaben eine Reihe von nationalen Zielwerten für 2030. Dadurch entfällt in diesen Bereichen - insbesondere im Verkehrs- und Wärmesektor - die Möglichkeit, auf das Prinzip der Arbeitsteilung zu setzen und die Emissionen dort einzusparen, wo es sich am meisten lohnt: In manchen Branchen und Staaten sind große CO2-Reduktionen relativ günstig zu verwirklichen, während anderswo schon recht geringe Einsparungen mit hohen Kosten verbunden sind. Nationale und sektorenspezifische Zielvorgaben machen Klimaschutz deshalb unnötig teuer.

Für einen effektiven und effizienten Klimaschutz sollte der EU-Emissionshandel daher so schnell wie möglich auf alle Sektoren ausgeweitet werden. Parallel dazu könnten viele nationale Klimaschutzmaßnahmen nach und nach wegfallen. Denn der aus dem Emissionshandel resultierende einheitliche CO2-Preis, der im Laufe der nächsten Jahre stark ansteigen dürfte, ist als Koordinierungssignal dringend notwendig. Nur so können in allen Sektoren und Regionen wirksame Anreize für die massiven Investitionen gesetzt werden, die erforderlich sind, um die Klimaziele zu erreichen. Bis ein umfassender europäischer Emissionshandel umgesetzt ist, wird der Klimaschutz in wesentlichen Teilen eine nationale Angelegenheit bleiben. Auch Deutschland und Frankreich haben etwa im Verkehrssektor bisher keine gemeinsame Strategie verfolgt. Dieses Versäumnis sollte möglichst schnell korrigiert werden.

Je länger die Umsetzung eines einheitlichen Preissignals durch einen umfassenden europäischen Emissionshandel dauert, desto höher werden die Gesamtkosten der Transformation ausfallen. Solange die Koordinierung nationalen Preissystemen überlassen wird - wie der CO2-Steuer im Verkehrs- und Wärmesektor, die in Deutschland zum 1. Januar dieses Jahres eingeführt wurde -, können Effizienzgewinne aus der Arbeitsteilung nicht genutzt werden. Jahrelang hielten sich die aus diesem Versäumnis resultierenden Wohlstandsverluste noch in Grenzen, da die Klimaziele weniger ambitioniert waren. Mit der Ankündigung des "Green Deal" haben sich die Rahmenbedingungen jedoch dramatisch verändert: Angesichts der Größe der Herausforderung könnte ein ineffizientes Vorgehen nun enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Konsequenzen haben.

Allerdings ist jetzt schon klar, dass die Ausweitung des EU-Emissionshandels Zeit in Anspruch nehmen wird. Bis dahin wäre es sinnvoll, den Emissionshandel in den derzeit erfassten Bereichen mit einem CO2-Mindestpreis zu stärken. Bislang spiegelt der Preis, der sich über den Emissionshandel bildet, den Ambitionsgrad der verschärften Klimaziele allerdings nur unzureichend wider. Die EU sollte deshalb regelmäßig den "CO2-Schattenpreis", der zum Erreichen dieser Ziele notwendig wäre, wenn es schon eine umfassende Bepreisung von CO2 gäbe, schätzen lassen und veröffentlichen. Diese Berechnungen könnten zugleich als Basis für Kosten-Nutzen-Analysen dienen, die eigentlich für die Vielzahl an bestehenden Klimaschutzmaßnahmen - Verbote, Normen, Standards und Subventionen - durchgeführt werden müssten. Dann würde deutlich, dass Klimaschutz immer einen Preis hat - unabhängig davon, ob die Belastung explizit durch die Erhebung eines CO2-Preises oder implizit durch andere Maßnahmen bewirkt wird.

So wichtig ein wirksamer CO2-Preis für einen effektiven Klimaschutz ist - ein steil ansteigender Preis könnte die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen gegenüber ihren globalen Konkurrenten beeinträchtigen. Wenn die Kosten für die emissionsintensiven heimischen Produzenten immer weiter steigen, könnten sie sich veranlasst sehen, ihre Produktion und damit ihre Emissionen an Standorte außerhalb Europas zu verlagern. Dieser "Carbon Leakage" würde nicht nur Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Wohlstand in Europa gefährden, sondern auch dem Klimaschutz insgesamt schaden und die Ambitionen der EU konterkarieren. Nicht zuletzt dürften einmal getroffene Auslagerungsentscheidungen aufgrund der langen Investitionszyklen im Industriesektor hinterher nur schwer rückgängig zu machen sein.

Bisher hat der EU-Emissionshandel nicht zu ernsthaftem "Carbon Leakage" geführt. Dies dürfte allerdings auch an den eher moderaten Preisen gelegen haben, die Unternehmen für CO2-Emissionen zahlen mussten. Zudem wurde die globale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produzenten recht erfolgreich durch die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten an energieintensive Industrieunternehmen geschützt. Je höher der CO2-Preis, desto schwerer lässt sich diese Maßnahme jedoch wirksam aufrechterhalten. Deutlich höhere CO2-Preise, die den hohen Ambitionen des "Green Deal" entsprechen, drohen deshalb zu mehr Produktionsverlagerungen zu führen, es sei denn, es gelänge, weitgehende Wettbewerbsgleichheit beim Klimaschutz herzustellen.

Ein Preis für alle - auch für Importeure

Eine vielversprechende Alternative zur kostenfreien Zuteilung von Zertifikaten könnte dabei ein CO2-Grenzausgleich sein. Dabei sollte nach unserer Einschätzung die einheitliche Bepreisung des Kohlenstoffgehalts der in der EU konsumierten Produkte im Mittelpunkt stehen. Die grundsätzliche Idee hinter diesem Mechanismus besteht darin, eine CO2-Abgabe auf Importe zu erheben. Im Idealfall würden demnach alle in der EU genutzten Produkte mit dem gleichen CO2-Preis belastet, unabhängig von ihrem Herstellungsort und der dort geltenden Klimapolitik.

Wenngleich diese grundsätzliche Idee eines Grenzausgleichs bei importierten Gütern leicht nachzuvollziehen ist, ist ihre Umsetzung nicht trivial. So müssen entlang des Weges eine ganze Reihe von technischen, regulatorischen und rechtlichen Herausforderungen gemeistert werden. Die genaue Messung des Kohlenstoffgehalts einzelner Güter ist nicht einfach, da man die gesamten Emissionen erfassen müsste, die in der Wertschöpfungskette des Gutes entstehen. Das ist aufwendig, zumal es für ein und dasselbe Gut viele mögliche Produktionsprozesse gibt, die sich in ihren Emissionen erheblich unterscheiden können. Um den administrativen Aufwand zu begrenzen, könnte das System daher zunächst auf sehr energieintensive und häufig gehandelte Güter beschränkt werden.

Strittig dürfte zudem die Frage nach möglichen Ausnahmen sein: Welche in die EU exportierenden Länder sollen dem Grenzausgleich unterliegen - alle Länder außerhalb des EU-Emissionshandels oder nur Länder ohne gleichwertige Klimapolitik? Sollte sich die EU für den zweiten Ansatz entscheiden, müsste eine "gleichwertige Klimapolitik" erst definiert werden. Im Prinzip könnte auch hierbei ein CO2-Schattenpreis eine wichtige Rolle spielen: Staaten, in denen preisbasierte und andere Klimaschutzinstrumente zu einem ähnlichen CO2-Schattenpreis wie in der EU führen, könnten vom Grenzausgleichsmechanismus ausgenommen werden. Allerdings ist in der Praxis sehr schwierig, den CO2-Schattenpreis für die Fülle an implementierten Regulierungsmaßnahmen abzuschätzen. Somit könnten Länder, die dem Grenzausgleich unterliegen, das als handelspolitisch motivierte Entscheidung betrachten und dagegen vorgehen.

Ein Nachteil für Exporteure

Ein solcher Grenzausgleich auf Importe würde europäische Unternehmen auf dem heimischen Markt schützen. Er wäre aber keine Hilfe für Exporteure, die im Ausland einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Unternehmen aus Ländern mit weniger strenger Klimapolitik hätten. Theoretisch wäre es möglich, diese Unternehmen mit einer symmetrischen Variante des Grenzausgleichs zu schützen: Der CO2-Preis eines Gutes würde sich dann jeweils an dem Land orientieren, in dem das Gut verbraucht wird. Unternehmen erhielten dann eine Rückzahlung, wenn sie in ein Land mit einem geringeren - oder gar keinem - CO2-Preis exportieren. Das System würde insgesamt an eine Mehrwertsteuer erinnern, bei der Importe besteuert werden und Exporte befreit sind.

Diesen Weg sollte die EU jedoch nicht einschlagen. Denn damit würde sie ihre Glaubwürdigkeit und ihr Selbstverständnis als Vorreiterin in der Klimapolitik aufs Spiel setzen. Wenn der CO2-Preis nur noch für Güter bezahlt werden muss, die tatsächlich in Europa verbraucht werden, lässt sich die Gesamtmenge der bei der Herstellung von Gütern in der EU entstehenden Emissionen nicht mehr von der EU kontrollieren. Ein Rabatt beim Grenzausgleich für EU-Exporteure könnte zudem gegen die Regeln der Welthandelsorganisation verstoßen und zu langwierigen Handelsstreitigkeiten führen. Die Handelspartner könnten einen einseitigen Grenzausgleich als protektionistische Maßnahme interpretieren. Dieses Risiko wäre umso größer, je offener die EU den Grenzausgleich als Instrument zur Sicherung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit statt des globalen Klimaschutzes begründet.

Aus dem grundsätzlichen Dilemma zwischen Klimaschutz und Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit gibt es keinen einfachen Ausweg. Die EU hat den Klimaschutz zu einem vorrangigen Ziel erklärt. Dementsprechend sind Maßnahmen wie der Emissionshandel und der CO2-Grenzausgleich auch nicht als Handels-, Wettbewerbs- oder Industriepolitik zu verstehen und zu kommunizieren, sondern als Umweltpolitik: Ihr Ziel besteht in der Reduzierung des globalen Treibhausgasausstoßes, nicht in der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Selbstverständlich hat die Politik dennoch die Verantwortung, die Klimaziele mit den effizientesten Mitteln zu verfolgen. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass die EU konsequent den Weg der CO2-Bepreisung verfolgt und die Industrie nicht zusätzlich durch teils wenig wirksame kleinteilige Verbote und Normen belastet.

Leider geraten die Ziele von Klimaschutzmaßnahmen auch an anderer Stelle durcheinander: So hat der Europäische Rat den Grenzausgleich nicht nur als Instrument zur Verhinderung des "Carbon Leakage" hervorgehoben, sondern ihn zugleich als zusätzliche Einnahmequelle für den EU-Haushalt ab 2023 angekündigt. Dies ist in zweifacher Hinsicht bedauerlich: Erstens sollte das explizite Ziel des Grenzausgleichs in der Reduktion von CO2-Emissionen bestehen und nicht durch eine geplante Erhöhung öffentlicher Einnahmen verwässert werden. Zweitens würde der Grenzausgleich zwar von ausländischen Produzenten abgeführt, die Kosten hätten aber zum großen Teil die europäischen Verbraucher zu tragen. Denn Importsteuern werden in der Regel weitgehend auf die Preise aufgeschlagen, so dass letztlich vor allem heimische Konsumenten - und weniger ausländische Produzenten - mehr bezahlen.

Haushalte müssen entlastet werden

Besser wäre es, die Einnahmen, die aus einem erweiterten Emissionshandel und vor allem bei höheren CO2-Preisen entstehen, dazu zu nutzen, die Verteilungswirkungen der Klimapolitik abzufedern. Denn durch die CO2-Bepreisung werden ärmere Haushalte überproportional belastet. Es liegt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, die Einnahmen aus der Bepreisung einzusetzen, um diese Haushalte an anderer Stelle zu entlasten: etwa durch Rückerstattungen, Energiepreisreformen und Infrastrukturinvestitionen. Von dieser sozialen Balance wird aller Voraussicht nach auch die Akzeptanz der Klimapolitik abhängen.

Je entschiedener die EU den Weg beschreitet, einen umfassenden CO2-Preis als Leitinstrument zur Durchsetzung ihrer ambitionierten Klimaziele zu wählen, umso eher wird es ihr gelingen, andere Volkswirtschaften in eine internationale Allianz zur CO2-Bepreisung einzubinden. Die Aussichten darauf sind nicht zuletzt durch die Amtsübernahme von US-Präsident Biden gewachsen. Mit der Herausbildung einer solchen Allianz würde sich aus europäischer Sicht auch das Dilemma zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz entschärfen: Bei Produkten, die aus Staaten importiert (und in diese exportiert) werden, die dieser Allianz angehören, entfiele der Anlass für einen Grenzausgleich. Das wäre weit besser, als die eigenen Klimaziele und -maßnahmen durch protektionistisch anmutende Krücken wie einen Grenzausgleich für Exporte zu relativieren. Dann könnte auch die klimapolitische Mondlandung der EU gelingen.

Die Autoren Christoph M. Schmidt, Marcel Fratzscher, Clemens Fuest, Isabelle Méjean, Nicola Fuchs-Schündeln, Christian Gollier, Philippe Martin, Xavier Ragot, Katheline Schubert, Beatrice Weder di Mauro bilden zusammen den Deutsch-Französischen Rat der Wirtschaftsexperten.