Gastbeitrag

Wie sich Leistung wieder lohnt

Das Hartz-IV-System hat seine Wirkung gezeigt. Nun ist es Zeit für eine Neuauflage. Denn in seiner jetzigen Form hält es Menschen von der Arbeit fern, erklärt Andreas Peichl.


Quelle:
F.A.Z.
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Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst entschieden, dass Sanktionen bei Kürzungen von mehr als 30 Prozent der Hartz-IV-Leistungen verfassungswidrig sind. Seitdem ist die Debatte wieder in vollem Gange. Die Reformvorschläge gehen von minimalinvasiven Eingriffen im bestehenden System bis hin zu Radikalreformen wie der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens.

Zweifellos hat Hartz IV seine Wirkung gezeigt. Wie und ob diese Wirkungen so gewünscht waren, darüber scheiden sich die Geister. Befürworter des bestehenden Systems sagen, die Hartz-Reformen hätten den Abbau der Arbeitslosigkeit seit 2005 erst möglich gemacht; eine Abschaffung gefährde diesen Erfolg. Kritiker bemängeln, seit Hartz IV sei der Niedriglohnsektor auf ein ungesundes Maß angewachsen, während die positiven Arbeitsmarktwirkungen auf andere Faktoren zurückzuführen seien. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Reformen zum Rückgang der Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Sie sind aber nicht der einzige Einflussfaktor. Und auch der Niedriglohnsektor ist aufgrund von Flexibilisierungsregelungen und Lohnzurückhaltung schon vorher angestiegen. Gleichwohl ist es sinnvoll, sich die Regelung rund 15 Jahre später noch einmal genau anzusehen und konkrete Reformoptionen zu diskutieren.

Im Rahmen der Hartz-Reformen wurden 2005 unter anderem die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II (ALG II), umgangssprachlich „Hartz IV“, zusammengelegt. Sozialhilfebezieher wurden hierdurch etwas besser, Arbeitslosenhilfebezieher zum Teil deutlich schlechter gestellt. Gleichzeitig wurde die Bedürftigkeitsprüfung in Form der Vermögensanrechnung verschärft und die Transferleistung an Bedingungen geknüpft – vor allem daran, dass Arbeitslose Bereitschaft zeigen, einen neuen Job aufzunehmen. Falls ein Hilfsbedürftiger ohne wichtigen Grund die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, kann die Regelleistung seither gekürzt werden.

Eine ideologische Debatte

Die Debatte um Hartz IV wird zuweilen sehr ideologisch geführt. Das zeigt sich etwa dort, wo es um den Empfängerkreis geht. Hartz IV empfangen sowohl Arbeitslose und Langzeitarbeitslose als auch sogenannte Aufstocker, deren Arbeitseinkommen nicht bedarfsdeckend ist. Haben wir unser soziales Problem nun schlechter im Griff, wenn die Zahl der Empfänger steigt? Ganz so einfach ist es leider nicht. Wenn mehr Personen in die Bedürftigkeit abrutschen, kann ein Anstieg der Transferempfänger in der Tat bedeuten, dass die Armut steigt. Wenn jedoch mehr Berechtigte in die Lage versetzt werden, die Leistungen auch tatsächlich abzurufen, geht dadurch die verdeckte Armut zurück. In diesem Fall wäre der Anstieg der Empfänger als Erfolg des Sozialstaates zu werten.

Schafft man es durch geeignete Maßnahmen, dass Menschen höherwertige Jobs annehmen können, weil ihnen beim Hinzuverdienst weniger abgezogen wird, spielt die Anzahl der Empfänger nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Anzahl der Transferempfänger ist also bei einer grundlegenden Reform des Systems keine ökonomisch sinnvolle Zielgröße – auch wenn sie in der politischen Diskussion gerne als Totschlagargument verwendet wird. Aus diesem Grund stehen die zuständigen Ministerien auch einer Reform der Hinzuverdienstregeln eher ablehnend gegenüber. Stattdessen wird es als politischer Erfolg verbucht, wenn sich die Zahl der Personen in Grundsicherungsbezug verringert.

Eine einfache Möglichkeit, Personen aus dem Hartz-IV-Bezug „verschwinden zu lassen“, ist es, diesen Haushalten Kinderzuschlag, Wohngeld oder Unterhaltsvorschuss zu gewähren, so dass sie statistisch keine Hartz-IV-Empfänger mehr sind. Gesamtwirtschaftlich betrachtet ist das jedoch nicht sinnvoll, da der Transfer nun nur aus einem anderen Topf gezahlt wird, ohne dass die Betroffenen mehr Einkommen in der eigenen Tasche hätten. Sinnvoller könnte es dagegen sein, Hartz IV zu reformieren. Dazu gibt es verschiedene Ansatzpunkte.

Ansatzpunkt 1: Höhe der Transferzahlungen

Die Höhe der Transferzahlungen sollte stets auf Basis objektiver Kriterien betrachtet werden. Im aktuellen System werden zusätzlich zum ALG-II-Regelbedarf die Beiträge zur Krankenkasse, Leistungen für Kosten der Unterkunft und auf Antrag einige unregelmäßige Leistungen gezahlt sowie einige geldwerte Vergünstigungen gewährt. Der durchschnittliche Leistungsumfang, der den Regelsatz und die Kosten der Unterkunft beinhaltet, beträgt rund 745 Euro im Monat für einen Single, wobei die Kosten der Unterkunft regional variieren. In München zum Beispiel werden bis zu 1094 Euro an einen Single gezahlt.

Ziel des Grundsicherungsniveaus ist es, das Existenzminimum zu sichern. Deshalb ist es bewusst niedrig gewählt. Vor allem soll das Lohnabstandsgebot sicherstellen, dass Beschäftigte bessergestellt werden als Nichtbeschäftigte. Deswegen sind Hartz-IV-Empfänger gemessen an absoluten Grenzen, wie sie zum Beispiel von der Weltbank definiert sind, nicht arm. Allerdings liegen sie in der Regel unter der relativen Armutsgefährdungsschwelle, haben laut Definition also weniger als 60 Prozent des mittleren verfügbaren Einkommens zur Verfügung. Bei den aktuellen Verhältnissen in Deutschland liegt diese Grenze bei etwa 1000 Euro im Monat.

Der Hartz-IV-Regelsatz für eine alleinstehende Person liegt aktuell bei 424 Euro im Monat und wird zum neuen Jahr auf 432 Euro steigen. Diese Beträge sind nicht willkürlich festgesetzt, sondern beruhen auf unabhängigen statistischen Auswertungen von Haushaltsdaten. Ein solcher wissenschaftlicher Ansatz hat den Vorteil, dass die Sätze nicht im politischen Prozess festgelegt werden, der oftmals ein Überbietungsprozess sein kann, sondern empirisch fundiert und transparent berechnet werden. Mit der Einführung des ALG II wurde bewusst die Leistungshöhe unabhängig von vorherigen Einkünften gestaltet. Man wollte verhindern, dass dauerhafte Transferleistungen an Empfänger mit ehemals höheren Einkommen die Arbeitsanreize stark einschränkten. Dieses Vorgehen sollte nicht verändert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Berechnungsverfahren über jede Kritik erhaben sind. Mögliche methodische Fehler, die immer wieder diskutiert werden, müssten korrigiert werden.

Wichtig ist es auch, sich über die Höhe des Schonvermögens Gedanken zu machen. Aus der Perspektive des Subsidiaritätsprinzips ist es richtig, dass jeder zunächst eigene Mittel einsetzt, bevor er die Hilfe des Staates beansprucht. Eine volle Vermögensanrechnung untergräbt aber Anreize zur Vorsorge. Zusätzlich ist es sinnvoll, die Höhe des Schonvermögens an die Erwerbsbiographie zu binden. Das kommt denen entgegen, die es als unfair ansehen, wenn Transferempfängern, die nie gearbeitet haben, das gleiche Schonvermögen gewährt wird wie Empfängern, die viele Jahre berufstätig waren.

Ansatzpunkt 2: Funktionsfähigkeit der Anreize

Die Hinzuverdienstregeln von Hartz IV behindern Menschen dabei, sich aus den Transfersystemen zu befreien. Es gilt zwar ein Freibetrag von 100 Euro im Monat, bis zu dem Aufstocker „brutto für netto“ hinzuverdienen dürfen. Aber es lohnt sich kaum, die Arbeitszeit darüber hinaus auszuweiten. Wiederholt wurde empirisch gezeigt, dass die bestehenden Regeln Kleinstjobs bis 100 Euro bevorzugen und Menschen von der Aufnahme oder Ausweitung einer Beschäftigung abhalten. Wen wundert das, wenn eine Aufstockung der Arbeitsstunden sogar zu einem Rückgang des Nettoeinkommens führen kann? Kleinstjobs sind zwar einer Arbeitslosigkeit vorzuziehen, sie bieten in der Regel aber nur sehr beschränkte Perspektiven. Obwohl gerade die Hartz-Reformen das Ziel hatten, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu verbessern, ist das Problem hoher Abschöpfungsraten bei niedrigen Einkommen nach wie vor ungelöst, obwohl seit mehr als 30 Jahren immer wieder darauf hingewiesen wird. Tatsächlich zeigen die Daten eine auffällige Häufung von Kleinstjobs bei Aufstockern. Mitarbeiter in Job-Centern vermuten, dass viele dieser „Tarnkappenjobs“ Schwarzarbeit verschleiern sollen.

Ansatzpunkt 3: Verhältnismäßigkeit der Sanktionen

Sanktionierung von fehlenden Bemühungen der Transferempfänger ist aus Sicht der Steuerzahler ein Akt der Fairness. Denn Solidarität ist keine Einbahnstraße. Das zweite Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) verfolgt deshalb explizit den Grundsatz „Fördern und Fordern“, der auf die Eigenverantwortung und Mitwirkung des Leistungsempfängers abzielt. Gleichwohl wird die Bedeutung der Sanktionen in der öffentlichen Debatte überschätzt: Die Sanktionsquote betrug 2018 im Schnitt nur 3,2 Prozent. Den Höchststand hatte sie in Berlin (5,1 Prozent), den niedrigsten in Baden-Württemberg (2,6 Prozent). Sie ist höher für Männer (4,3 Prozent) als für Frauen (2 Prozent) und höher für Personen jünger als 25 (3,9 Prozent) als für Personen älter als 55 (0,9 Prozent). Auch unter Ausländern ist sie mit 2,3 Prozent vergleichsweise niedrig.

Die meisten Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen verhängt, weniger als jede fünfte Sanktion hat eine Verweigerung der Leistungsempfänger zum Grund. Die durchschnittliche Kürzung der Leistungen beträgt knapp 19 Prozent und liegt damit deutlich unterhalb der Grenze von 30 Prozent, die das Bundesverfassungsgericht jüngst als Obergrenze festgelegt hat. Ob Sanktionen tatsächlich auch in den richtigen Fällen verhängt werden und ob sie Verhaltensänderungen bei den Sanktionierten verursachen, ist empirisch schwer zu belegen. Dazu ist die Datenlage in Deutschland grundsätzlich zu schlecht. Die wenigen wissenschaftlichen Studien, die es zu dieser Frage gibt, deuten darauf hin, dass sich Sanktionen positiv auf die Wahrscheinlichkeit der Wiederbeschäftigung auswirken.

Vorschläge für Reformen

Wie also könnte eine Hartz-IV-Reform aussehen? Dazu gibt es unterschiedliche Vorschläge, unter anderem aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) in Nürnberg und aus den Reihen der Grünen, der FDP und der SPD. Am Ifo-Institut haben wir einen Reformvorschlag unterbreitet, der sich darauf konzentriert, die Beschäftigungsanreize des Grundsicherungssystems zu verbessern. Es geht darum, Fehlanreize abzubauen, die Betroffene derzeit daran hindern, höhere eigene Einkommen zu erzielen und die Abhängigkeit von Transfers zu reduzieren. Denn wenn die Anreize stimmen, dann benötigt es auch weniger Sanktionen, um die Betroffenen zur Arbeit zu motivieren.

Allen derzeit diskutierten Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie an der Unabhängigkeit der Leistungshöhe von der Erwerbsbiographie nichts ändern wollen. Die Vorschläge des IAB, des Ifo-Instituts und der SPD sehen auch in der Leistungshöhe an sich keine prinzipielle Änderung des Status quo vor. Das ist anders bei den Vorschlägen der Grünen und der FDP, die zum Teil Erhöhungen sowie weitere Pauschalierungen fordern.

Größere Unterschiede gibt es wiederum in der Gestaltung der Transferentzugsraten. Eine Besonderheit des Vorschlages des Ifo-Instituts ist es zum Beispiel, dass bezüglich der Grenzbelastung zwischen Haushalten mit und ohne Kinder differenziert wird. Darüber hinaus soll, ebenso wie bei den Grünen und der FDP, das Schonvermögen erhöht werden. Während die Vorschläge des Ifo-Instituts und des IAB keine Änderungen der Sanktionen diskutieren, fordern SPD und FDP dagegen eine Abmilderung der Sanktionen und die Grünen gar die komplette Abschaffung. Insgesamt haben alle Vorschläge, mit Ausnahme des Konzeptes der SPD, eine Integration der Transferleistungen gemeinsam, um die Komplexität des Gesamtsystems zu verringern.

Der Ifo-Vorschlag führt dazu, dass sich Arbeit auch bei niedrigen Stundenlöhnen wieder lohnt. Bei sinkender Abschöpfungsrate steigen zwar die Kosten des Staates, weil dann mehr Menschen höhere Zuschüsse bekämen. Doch das Geld würde dann dorthin fließen, wo es dringend gebraucht wird. Und außerdem würde Leistung belohnt, wo sie gegenwärtig entmutigt wird: an der Stelle, wo Menschen aus eigener Anstrengung der Abhängigkeit von Transferzahlungen entkommen könnten. Eine solche Reform steigert die Leistungsanreize und wäre damit nicht nur gerecht, sondern auch effizient.

Reformbedarf besteht aber nicht nur in der Frage der Hinzuverdienstregelungen. Empfänger fühlen sich oft stigmatisiert, wenn sie Sozialleistungen wie Hartz IV beziehen. Die Administration sollte Prozesse so gestalten, dass es nicht dazu kommt. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung kann helfen, die Verknüpfung der Daten aus unterschiedlichen Ämtern und Registern, wie sie der Nationale Normenkontrollrat gefordert hat, ebenso. Bekommen Berechtigte ihre Auszahlung automatisch, könnten sie sich den „Gang zum Amt“ sparen. Öffentlich zu erklären, der Empfang von Transferleistungen sei ein Makel (und Hartz IV müsse deshalb „überwunden“ werden), steigert jedoch die gesellschaftliche Stigmatisierung und ist deshalb alles andere als zielführend.

Insgesamt ist das deutsche Sozialsystem zu kompliziert und zum Teil inkonsistent. Eine Vielzahl von Behörden verwaltet mehr als 150 steuer- und beitragsfinanzierte Sozialleistungen. ALG II, Wohngeld und Kinderzuschlag sind aufgrund der jeweiligen Zuständigkeit von drei Ministerien nicht aufeinander abgestimmt. Hier sind weitere Reformen dringend notwendig. Auch wenn kurzfristig die Bereitschaft und Kraft der Politik zu Reformen begrenzt ist: Langfristig ist ein besser integriertes und aufeinander abgestimmtes Gesamtsystem der Steuern, Abgaben und Transfers unabdingbar.

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Harald Schultz

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Prof. Dr. Andreas Peichl

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