Gastbeitrag

Das macht den Süden noch ärmer

Clemens Fuest

"Eine von außen vorgeschriebene Mindestlohnerhöhung kann nicht sicherstellen, dass es zu diesen Löhnen auch Arbeitsplätze gibt"


Quelle:
Wirtschaftswoche

Denkfabrik - Es mehren sich die Rufe nach einem europäischen Mindestlohn. Warum bloß? Er könnte das Wohlstandsgefälle in Europa weiter vergrößern.

In Europa mehren sich die Rufe nach einem EU-weiten Mindestlohn. So hat der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten Frans Timmermanns im Europawahlkampf gefordert, alle EU-Staaten sollten Mindestlöhne in Höhe von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns einführen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat ebenfalls EU-weite Regelungen für Mindestlöhne gefordert.

Derzeit haben 22 der 28 EU-Mitgliedstaaten gesetzliche Mindestlöhne. Die Höhe variiert stark. Sie reicht von 286 Euro pro Monat in Bulgarien bis zu 2071 Euro in Luxemburg. Deutschland liegt bei 1557 Euro. Bereinigt man die Werte um Kaufkraftunterschiede, reduziert sich die Spanne auf 577 Euro (Bulgarien) bis 1646 Euro (Luxemburg). Keine Mindestlöhne gibt es in den skandinavischen Ländern, in Österreich, Italien und Zypern. Vor allem in Skandinavien und Österreich sorgen Tarifverträge und Sozialtransfers aber für effektive Lohnuntergrenzen. Eine EU-Kompetenz für die Regulierung der nationalen Mindestlöhne gibt es derzeit nicht.

Welche Folgen hätte vor diesem Hintergrund eine Regelung, nach der alle EU- Staaten Mindestlöhne in Höhe von mindestens 60 Prozent des Medianlohns einführen müssen? Der Median bezeichnet jenen Wert, der statistisch in der Mitte von zwei gleich großen Hälften steht. Die existierenden Mindestlöhne liegen teilweise deutlich niedriger. In Deutschland müsste der Mindestlohn um rund 25 Prozent steigen, in Spanien, Estland und der Tschechischen Republik sogar um rund 50 Prozent. Nur Frankreich und Portugal müssten keine Anpassungen vornehmen.
Aus ökonomischer Sicht sind Mindestlöhne sinnvoll, wenn Unternehmen am Arbeitsmarkt eine starke Machtposition innehaben und sie untereinander nicht oder kaum um Arbeitskräfte konkurrieren. Dann können sie ihre Gewinne steigern, wenn sie Einstellungen gezielt niedrig halten, um die Löhne zu drücken. Derartige Situationen kommen sicherlich vor, wenn sie auch nicht die Regel sind.

Wenn Mindestlöhne aus diesem Grund wünschenswert sind, folgt daraus aber nicht, dass die EU in die nationale Mindestlohnpolitik eingreifen und Untergrenzen vorgeben sollte. Das wäre nur gerechtfertigt, wenn nationale Regierungen dazu neigen, Mindestlöhne systematisch zu niedrig anzusetzen. Derartige Fehlan reize würden bestehen, wenn Mindestlohnerhöhungen in einem Land positive Wirkungen auf den Rest Europas haben und diese positiven externen Effekte auf nationaler Ebene nicht berücksichtigt werden.

In diese Richtung weist das Argument, unter den Mitgliedstaaten bestehe ein unerwünschter Lohndumping-Wettbewerb. Einzelne Länder könnten ihre Mindestlöhne gezielt niedrig halten, um ihren Unternehmen Kostenvorteile gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu verschaffen. Hiergegen lässt sich einwenden, dass Mindestlöhne vor allem im Dienstleistungssektor relevant sind, der nicht oder kaum im internationalen Wettbewerb steht. In der Industrie werden meistens höhere Löhne gezahlt. Allerdings beziehen Industrieunternehmen durchaus Dienstleistungen von lokalen Anbietern, und Löhne in unterschiedlichen Sektoren sind nicht unabhängig voneinander. Insofern gibt es eine indirekte Wirkung von Mindestlöhnen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Unternehmen.

Ein europäisches Mindestlohnregime zur Eindämmung des Lohnkostenwettbewerbs wäre dennoch der falsche Weg. Erstens gehen in die Arbeitskosten nicht nur die Löhne ein, sondern auch Lohnnebenkosten. Wenn nationale Regierungen tatsächlich die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen für so wichtig halten, könnten sie auf eine Mindestlohnregulierung der EU schlicht dadurch reagieren, dass beispielsweise Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber gesenkt und die der Arbeitnehmer erhöht werden. Aber selbst wenn es möglich wäre, den Wettbewerb bei den Arbeitskosten durch Mindestlöhne einzuschränken, folgt daraus nicht, dass das auch sinnvoll ist. Länder wie Spanien und Portugal haben seit der Euro-Krise mit größer Mühe durch Lohnzurückhaltung die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft wieder hergestellt. Ein EU-Mindestlohn von 60 Prozent des Medianlohns würde das zunichte machen. Denn er würde diese Länder zwingen, ihre Mindestlöhne deutlich stärker zu erhöhen, als es für Deutschland oder Frankreich der Fall wäre.

Befürworter des EU-Mindestlohns führen ferner an, dieser sei notwendig, um die Wohlstandsunterschiede in Europa abzubauen. Wenn das so einfach wäre, hätten nationale Regierungen ärmerer Länder die Mindestlöhne allerdings schon längst erhöht. Sie haben ein starkes Interesse daran, dass ihre Länder wirtschaftlich aufholen. Das Hauptproblem liegt darin, dass eine von außen vorgeschriebene Mindestlohnerhöhung nicht sicherstellen kann, dass es zu diesen Löhnen auch Arbeitsplätze gibt. Zu hohe Mindestlöhne könnten zu Arbeitsplatzabbau führen. Dann würde das Wohlstandsgefälle steigen, nicht sinken.

Es gibt ohne Zweifel viele Politikfelder, auf denen gemeinsames Handeln auf europäischer Ebene wünschenswert ist. Die Mindestlohnpolitik gehört nicht dazu.

Clemens Fuest, 50, ist seit 2016 Präsident des ifo Instituts und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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