Gastbeitrag

Unfähig zur Selbstbindung

von Clemens Fuest und Johannes Becker

Die Euro-Krise ist zurück. Wer die Währungsunion retten will, muss sie so umbauen, dass sie nicht länger von Reformversprechen der Mitgliedstaaten abhängig ist.


Quelle:
Süddeutsche Zeitung

Griechenland ist wieder auf der Tagesordnung - und damit auch die Euro-Krise. Es hakt bei der Überprüfung des im Juli 2015 beschlossenen dritten Rettungspakets für Athen, weil die Zusagen der griechischen Regierung nur unzureichend umgesetzt worden sind. Zudem droht der Internationale Währungsfonds (IWF) auszuscheren, weil ihm die griechische Schuldenlast als nicht tragfähig erscheint. Dies wiederum stellt aus Sicht des deutschen Finanzministeriums das gesamte Rettungsprogramm infrage.

Auch der Blick auf die gesamte Euro-Zone ist keineswegs beruhigender. Zwar scheinen Irland und Spanien über den Berg zu sein, auch wenn sich an Spaniens katastrophaler Jugendarbeitslosigkeit kaum etwas geändert hat. Portugal jedoch kommt nicht vom Fleck. Und die ganz großen Sorgen konzentrieren sich vermehrt auf zwei der drei größten Länder der Währungsunion: Frankreich und Italien.

Die Schuldenlast Italiens ist größer als auf dem Höhepunkt der Euro-Krise im Jahr 2012, und die Regierung zeigt sich zunehmend unwillig, daran etwas zu ändern. Frankreich hat sich in eine veritable Parteienkrise manövriert. Beide Länder haben mehr als zehn Prozent Arbeitslosigkeit, schwere strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt, miese Wachstumsaussichten, regelwidrige Haushaltsdefizite und steigende öffentliche Schulden.

Gleichzeitig wird der Ton unter den Mitgliedstaaten rauer. Der Norden wirft dem Süden Reformmüdigkeit vor, der Süden beschuldigt Deutschland, mit seinem Beharren auf Defizitabbau Auswege aus der Krise durch Konjunkturprogramme zu verbauen. Geld fließt vom Süden in den Norden. Die Finanzmärkte werden zunehmend nervös. Es ist offensichtlich nicht gelungen, die Krise zu überwinden - obwohl doch die Politik in Europa nach der Finanzkrise Handlungsfähigkeit bewiesen hatte: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde reformiert, in dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) entstand eine Krisenfeuerwehr, die Staaten mit Krediten aushelfen kann. Im Fiskalpakt haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, für ausgeglichene Staatshaushalte zu sorgen, und die Wirtschaftspolitik wird stärker als früher koordiniert. Doch die meisten Reformen haben sich als wirkungslos oder ineffektiv erwiesen - weil sie nicht berücksichtigen, dass es für souveräne Staaten nur sehr eingeschränkt möglich ist, sich in zentralen Bereichen der Wirtschafts- und Fiskalpolitik an Regeln oder selbst gesetzte Ziele zu binden.

Odysseus ließ sich an den Mast des Schiffes fesseln - die Euro-Staaten schaffen das nicht

Der griechische Held Odysseus war in der Lage, dem Gesang der Sirenen zu widerstehen, weil er - fest angebunden an den Mast des Schiffes - seine Souveränität, seine Entscheidungsfreiheit zumindest vorübergehend vollständig abgeben konnte und wollte. Die Mitgliedstaaten der Euro-Zone dagegen sind zur Selbstbindung unfähig. Sie wollen ihre Zuständigkeit in so zentralen Politikbereichen wie der Fiskal- und Wirtschaftspolitik nicht aufgeben. Sie sind schließlich souveräne Demokratien. So bleibt es bei Versprechen und Selbstverpflichtungen, etwa zur Begrenzung der Budgetdefizite. Diese werden aber nur so lange eingehalten, wie es bequem ist. Dabei sind die Regeln gerade für Situationen gemacht, in denen der einzelne Staat Anreize hat, sie zu verletzen.

Die Unfähigkeit zur Selbstbindung ist das zentrale Problem der Euro-Zone, sie ist der Kern der immer noch nicht überwundenen Krise. Dabei kann man den politischen Entscheidern redliches Bemühen gar nicht absprechen. In langen Gipfelnächten wird um eine gemeinsame Haltung gerungen, dann gibt es einen „Durchbruch", der als Beweis der Handlungsfähigkeit gefeiert wird. Doch heimgekehrt in die jeweiligen nationalen Hauptstädte fühlt man sich an den Beschluss aus dem fernen Brüssel nicht mehr gebunden. Die Regierenden sehen sich vor allem ihrer eigenen Wählerschaft verpflichtet. Kollidieren die europäischen Koordinationsversuche mit nationalen Interessen, setzen sich am Ende meist letztere durch.

Die jüngere Vergangenheit bietet dazu reichlich Anschauungsmaterial. Frankreich verletzt das 2013 von ihm unterzeichnete Stabilitätsprogramm in jedem einzelnen nachfolgenden Jahr. An den gemeinsam beschlossenen Fiskalpakt, nach dem die konjunkturbereinigten Budgetdefizite maximal 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen sollen, möchte sich kaum noch jemand erinnern. Im Juli 2015 macht die griechische Regierung Zusagen, um nur kurze Zeit später zu verkünden, dass sie diese nicht mehr einhalten will. Anfang 2016 startet die von Italien mitbeschlossene und mitgetragene Europäische Bankenunion, die von der italienischen Regierung ein Jahr später zur Rettung der Krisenbank Monte dei Paschi unterlaufen wird.

Hin- und hergerissen zwischen der Notwendigkeit europäischer Koordination und nationalem Interesse, sind die Mitgliedstaaten notorisch unzuverlässig. Wie der österreichische Kabarettist Werner Schneyder einmal gesagt hat: „Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie selbst beschlossen haben."

Dessen ungeachtet werden immer neue Vereinbarungen und Regeln erlassen, die schon nach kurzer Zeit völlig wertlos sind. Stur halten die Vorsitzenden der europäischen Institutionen in ihrem Fünf-Präsidenten- Bericht daran fest, dass die Zukunft der Euro-Zone in mehr statt weniger Koordination liegt, obwohl die bereits geltenden Regeln kaum bindende Kraft aufweisen.

So bietet sich heute, fast acht Jahre nach Ausbruch der Krise, ein ernüchterndes Bild. Das Vertrauen in das Krisenmanagement der Euro-Zone ist vollständig verflogen, zwischen Krisen- und Geberländern herrschen Misstrauen und Streit. Die Finanzmärkte halten nur aufgrund der Ankündigung der EZB still, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aus Krisenstaaten aufzukaufen - was bei den geringer verschuldeten Staaten, vor allem in Deutschland, die Sorge auslöst, für Schulden haften zu müssen, denen sie nie zugestimmt haben. Ein Szenario, das in Griechenland schon lange Realität geworden ist. Was also ist tun?

Eine Reform der Euro-Zone muss an dem bereits beschriebenen Kernproblem ansetzen - der Unfähigkeit zur Selbstbindung. Theoretisch möglich sind Radikallösungen: Ein Ende des Euro würde die Notwendigkeit für gemeinsame Absprachen deutlich verringern, eine Fortentwicklung der Währungsunion in einen Bundesstaat die fehlende zentrale Ebene einfügen. Doch was immer man über diese Optionen denken mag, es mangelt beiden an politischem Rückhalt.

Realistisch gesehen, muss die Währungsunion in ihrer jetzigen Form weiterentwickelt werden: mit souveränen Nationalstaaten und einer schwachen zentralen Ebene, die mehr der Diskussion und freiwilligen Koordination untereinander dient als der zwingenden Durchsetzung vereinbarter Regeln. Es wird nach wie vor eine Euro-Zone sein mit Europäern, die in erster Linie Italiener, Deutsche oder Franzosen sind, mit Politikern, die sich nicht zu weit von den Interessen ihrer nationalen Wählerschaft lösen können.

Demokratische Kontrolle findet momentan vor allem im nationalen Rahmen statt, dort sollten daher auch die wesentlichen Entscheidungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verbleiben. Wer kontrolliert, haftet auch - und das muss ebenso umgekehrt gelten. Die Vergemeinschaftung von Kosten und Risiken ohne Preisgabe der nationalen Souveränität führt geradewegs in die Spaltung, wie die Euro-Krise anschaulich gezeigt hat.

Wenn national entschieden wird, fällt es schwerer, Regeln zu brechen

Völlig ohne gemeinsame Entscheidungen und zentralisierte Kompetenzen kommt eine Währungsunion freilich nicht aus. Das ist offensichtlich der Fall für die Geldpolitik, aber beispielsweise auch für die Bankenregulierung. Dort, wo es nötig ist, sollten Aufgaben in technokratischen Institution nach dem Vorbild der EZB europäisiert werden. So sollte die Europäische Bankenaufsicht marode Banken abwickeln können, ohne dass es weiterer politischer Entscheidungen auf europäischer Ebene bedarf und ohne dass ein nationales Veto möglich ist. Um demokratische Kontrolle trotzdem zu gewährleisten, müssen diese Institutionen in einem demokratischen Prozess mit einem präzise umrissenen Mandat ausgestattet werden. Der Disput über die Frage, ob die EZB mit ihren Hilfszusagen für Krisenstaaten ihre Kompetenzen überschritten hat, zeigt, dass es einer Präzisierung ihres Mandats bedarf. Und natürlich besteht immer die Möglichkeit, dieses Mandat mittelfristig über politische Entscheidungsprozesse zu verändern. Das Mandat schützt Odysseus davor, den Sirenen entgegenzusteuern; es bestimmt nicht das Ziel der Reise.

Da das Budgetrecht trotz der vorhandenen Schuldenregeln letztlich auf nationaler Ebene verbleiben wird, darf es keine gemeinsame Haftung in Form von Euro-Bonds geben. Weil die Fiskalpolitik nationaler Kontrolle unterliegt, ist die zwingende Konsequenz, dass im Überschuldungsfall auch national gehaftet wird. Die Institutionen der Währungsunion müssen verhindern, dass Schuldenlasten auf andere Mitgliedstaaten abgewälzt werden. Deshalb braucht es ein glaubwürdiges Verfahren für die Restrukturierung von Staatsschulden.

Wenn alle Mitgliedstaaten die Kosten eventueller Überschuldungskrisen im Wesentlichen selbst tragen, müssen niedriger verschuldete Staaten die anderen auch nicht unter Druck setzen, eine restriktive Finanzpolitik zu betreiben. Wer Investoren findet, die an Krisenüberwindung durch neue schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme glauben und bereit sind, die damit verbundenen Risiken zu tragen, kann sie auch umsetzen.

Auf diese Weise werden Entscheidungen auf nationaler Ebene durch den demokratischen Prozess kontrolliert und auf europäischer Ebene durch technokratische Institutionen durchgesetzt. Vereinbarungen zu unterlaufen, Regeln zu brechen würde dann ungleich schwerer als heute. Zu einem idealen Währungsraum wird die Euro-Zone dadurch zwar nicht. Sie hat jedoch mit diesen Reformen die Möglichkeit, sich mittelfristig zu einer funktionstüchtigen und krisenrobusten Währungsunion zu entwickeln, die ihren Mitgliedstaaten die Chance auf Wachstum, Stabilität und Wohlstand bietet.

Professor Clemens Fuest ist Präsident des ifo-Instituts in München, Professor Johannes Becker Direktor am Institut für Finanzwissenschaft der Universität Münster.