Gastbeitrag

Bildungschancen sind der Schlüssel

Veronika Grimm und Ludger Wößmann


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Soziale Marktwirtschaft muss neu gedacht werden und braucht gerechtere Bildungschancen. Förderung muss schon im Kindergarten anfangen.

Die Soziale Marktwirtschaft hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als sehr erfolgreich erwiesen: Sie verbindet Eigenverantwortung und Wettbewerb mit sozialem Ausgleich. Nach 70 Jahren ist es an der Zeit, sich Gedanken über ihre Zukunftsfähigkeit zu machen. Denn zunehmend kommen Zweifel auf, ob die bewährte Wirtschaftsordnung heutige Herausforderungen angemessen berücksichtigt. Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat angekündigt, eine Charta zur Neugestaltung der Sozialen Marktwirtschaft zu entwickeln. In diesem Rahmen wird diskutiert, ob die staatlichen Belastungen reduziert werden müssen, wie man die Gründermentalität stärkt oder wie sich die Ordnungspolitik für die digitale Wirtschaft weiterentwickeln lässt.

Ein zentrales Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft gerät bei all diesen Vorschlägen jedoch aus dem Fokus: die Menschen zu eigenverantwortlicher Teilhabe am Markt und an der Gesellschaft zu befähigen. Das kann nur eine Bildungspolitik leisten, die annähernd gleiche Startchancen schafft. Darauf hat soeben der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium in seiner aktuellen Stellungnahme "Bildungsgerechtigkeit als Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft" hingewiesen.

Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen, die in Kindheit und Jugend erworben wurden, steigern die Produktivität der Beschäftigten und ermöglichen höhere Einkommen. Heute sind in Deutschland nur 4 Prozent der Personen mit einer berufsqualifizierenden Ausbildung und sogar nur 2 Prozent der Akademiker arbeitslos. Dem gegenüber stehen nahezu 20 Prozent Arbeitslosigkeit bei Personen ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Jedes zusätzliche Bildungsjahr geht durchschnittlich mit rund 10 Prozent höheren Arbeitseinkommen einher.

Wer in Bildung investiert, versetzt Menschen also in die Lage, sich ertragreich in die Gesellschaft einzubringen. Zudem spielt Bildung eine wichtige Rolle für die politische Beteiligung, das staatsbürgerliche Engagement und die Akzeptanz der Gesellschaftsordnung. Deshalb sollte die Bildungspolitik künftig eine tragende Säule der Sozialen Marktwirtschaft sein.

In der Nachkriegszeit spielten Bildungsaspekte bei der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft keine große Rolle. Jeder und jede wurde am Arbeitsmarkt gebraucht. Von den späten fünfziger Jahren bis in die frühen siebziger Jahre warb die deutsche Wirtschaft Gastarbeiter an, weil der Bedarf an Arbeitskräften nicht gedeckt werden konnte. Die Vorzeichen haben sich geändert. Durch Globalisierung und Automatisierung ist die Arbeitsnachfrage nach geringqualifizierten Tätigkeiten extrem gesunken. Wer die entscheidenden Kompetenzen in Kindheit und Jugend nicht erwirbt, erfährt somit einen grundlegenden Nachteil, ohne dass er oder sie die entsprechenden Bildungschancen selbst beeinflussen konnte. Heute ist Bildung daher ein zentraler Faktor für die gesellschaftliche Teilhabe.

Deshalb ist es bedenklich, dass Bildungserfolg gerade in Deutschland stark vom familiären Hintergrund abhängt. So liegen die Mathematikleistungen von 15-Jährigen aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status im Durchschnitt etwa vier Schuljahre hinter den Leistungen von 15-Jährigen aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status zurück. Die Empfehlung, ein Gymnasium zu besuchen, ist bei Kindern in besser situierten Familien rund 2,5-mal so wahrscheinlich wie bei Kindern aus Arbeiterfamilien - selbst bei gleichen fachlichen Leistungen. 79 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien nehmen ein Studium auf, verglichen mit 27 Prozent der Kinder aus Nichtakademikerfamilien. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Menschen selbst mündig werden, sind die Chancen für den weiteren Bildungs- und Berufsverlauf längst nicht mehr gleich verteilt.

Ein Bildungssystem, das allen Kindern und Jugendlichen eine qualitativ hochwertige Bildung vermittelt, muss ein zentrales Element einer Neukonzeption der Sozialen Marktwirtschaft sein. Dabei geht es weniger um höhere Bildungsabschlüsse als darum, ein Fundament an Kompetenzen zu schaffen, das zur eigenverantwortlichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigt. Bildung ist ein dynamischer Prozess, der auf dem bisher Erlernten aufbaut.

Deshalb ist es wichtig, schon in die frühkindliche Bildung und in die Grundschulen zu investieren. Sie müssen quantitativ und qualitativ so ausgelegt sein, dass auch Kinder aus benachteiligten Verhältnissen gut auf das weiterführende Bildungssystem vorbereitet sind. Dazu müssen benachteiligte Gruppen mit gezielten Maßnahmen gefördert werden. Bildungspolitik kann die Aufgaben von Familien nicht ersetzen. Aber sie trägt ganz entscheidend zu gleichen Startchancen bei.

Die Forschung belegt, dass frühkindliche Bildungsprogramme gerade bei Kindern aus benachteiligten Verhältnissen langfristig sehr effektiv die Bildungs- und Arbeitsmarkterfolge fördern können. In diesem Fall besteht kein Zielkonflikt zwischen Chancengleichheit und Effizienz, zumal durch ein entsprechendes Fundament auch spätere Weiterbildungsmaßnahmen effektiver werden.

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Zusammenspiel von eigenverantwortlichem Wettbewerb und sozialem Ausgleich ist ein wichtiges Fundament, um die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Vor dem Hintergrund von Globalisierung und Digitalisierung bedarf es jedoch neuer Wege des staatlichen Handelns, um den Menschen gleiche Startchancen zu ermöglichen. Nur so kann es gelingen, das Zusammenspiel von Leistungsbereitschaft und sozialer Teilhabe in die Zukunft zu tragen, um die neuen gesellschaftspolitischen Herausforderungen zu bewältigen. Wenn es den Menschen offenkundig erscheint, dass im bestehenden System keine oder zu wenig Chancengerechtigkeit herrscht, schwindet auch ihre Akzeptanz für das Gesellschaftssystem. Deshalb muss Bildungsgerechtigkeit ein Kernelement der Charta einer erneuerten Sozialen Marktwirtschaft werden.

Veronika Grimm ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Universität Erlangen-Nürnberg. Ludger Wößmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet das Ifo-Zentrum für Bildungsökonomik. Beide gehören dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium an.